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Archiv für christliche Kunst: Organ des Rottenburger Diözesan-Kunstvereins — 40.1925

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Nr. 1- 3
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Nr. 4-6
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Weser, Rudolf: Der Bibliotheksaal von Wiblingen
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https://doi.org/10.11588/diglit.15943#0050
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grünlich marmorierten gefälligen Balustern umsäumt ist. Die Galeriebalustrade hat auf
jeder Seite des Saales in der Mitte eine Ausbuchtung oder einen Vorsprung im Halb-
rund. Diese Vorsprünge stehen je auf vier grün marmorierten Säulen, während die
anderen, die Galerie tragenden Säulen, rot marmoriert sind, ein Farbenwechsel, der
außerordentlich lebendig wirkt. Hinter diesen Säulenftellungen laufen an allen von Fenstern
freien Wandteilen die offenen Bücherregale sowohl im unteren Teil des Saales
als auf der Galerie hin, die durch eine leichte Marmorierung hcrvorgehoben sind. Die
Regale sind offen, und sie würden wohl auserlesene Schätze zeigen, wenn sie nicht durch
die erbarmungslose Säkularisation auSgeraubt und verschleppt worden wären. Doch ist
immerhin noch ein kümmerlicher Rest der ehemaligen Bibliothek an Ort und Stelle, und
die Regale sind teilweise durch die Bibliothek des Landkapitels Lauphcim ausgefüllt.

Ucber der Galerie täuscht an der Rückwand empor der trügerische Stuck nochmals
eine Balustrade vor, über die der Blick hinaufgeführt wird zu dem großen, mächtigen
Deckenbild, das von einer sehr reich gestalteten Stuckrahmc umfaßt wird.

So haben wir geschwind das Ganze überschaut, um das Vollbild des Saales in uns
aufzunehmen. Nun gilt es, von einem zum andern zu wandeln und das einzelne zu
studieren.

Im unteren Raume stehen zwischen je zwei der grünmarmoriertcn Säulen vorzüglich
geschnitzte Holzfiguren in lebhafter Bewegung. Sie sind mit Glanzweiß gestrichen
und machen so den Eindruck von Alabastermarmor. Jede Figur trägt eine Anzahl von
vergoldeten Emblemen.

An der Ostscitc steht links eine Frauengeftalt mit Strahlenkrone, die in ihrer Rechten
ein Buch mit der Abtsinful hält, während die Linke ein Ohr an einer Kette hält. Das Buch
bedeutet das Regelbuch des Ordens, und das Ohr erinnert an den Beginn der Benedik-
tinerregel: uuscultu fili — Hör mein Sohn! Die Frauengestalt ist also die Personifi-
zierung der Grundtugend des Mönchs, des Gehorsams. Sie mahnt zum spernere
se ipsum, zur Selbstverachtung und Achtung des Willens des Oberen.

Die Frauengestalt an derselben Seite rechts hält in der Linken einen Palmzwcig,
in der Rechten ein Buch und tritt mit dem rechten Fuß auf eine von Riffen durchfurchte
Kugel. Es ist die Personifikation des Mönchsideals, der W e l t v e r a ch t u n g , des
spemere mundum.

Schildern diese beiden Figuren die Grundlagen des monastischen Geistes, so erinnern
die vier Figuren unter den Galerievorsprüngen der Langseiten an die Klöster als Hei m -
st ä t t e n der weltlichen Wissenschaft: an der Nordseitc steht zunächst eine
Frauenfigur, die eine Fcuerflammc hält, aus der Flammenpfeile hervorbrechen; zu ihren
Füßen liegt eine Sonne mit Strahlenreif. Sie symbolisiert die Naturwissen-
schaft. Mit ihr korrespondiert auf der Südseite die ruhig dastehende Figur der Math e-
m a t i k mit Winkel und Zirkel in der Rechten, eine Tafel mit lateinischen und griechischen
Buchstaben und arabischen Zahlen in der Linken; in einer geschwungenen Mantelfalte birgt
sich ein Globus. Die zweite Fraucnfigur der Nordseitc trägt Wage und Schwert als
Sinnbild der Gerechtigkeit; sie bedeutet die Iurisp rüden z. Ihr gegenüber auf der
Südseite erhebt sich eine Doppelfigur: die Geschichte oder Historiographie: eine be-
wegte, nach links geneigte Gestalt, die mit der Rechten Buch und Tintenfaß an sich zieht
und mit dem rechten Fuß auf ein Füllhorn tritt, aus dem Geldmünzcn hervorrollen. Vor
ihr sitzt der Gott Chronos, ein geflügelter, gekrönter Greis mit einem großen Buch in der
Linken, aus dem er eben mit der Rechten ein Blatt zerreißen will. Es soll ihm nicht ge-
lingen, denn beschwichtigend und verhindernd legt die Geschichte ihre Linke auf daS Buch.
In dieser Komposition sind geistreich die beiden Erfordernisse der Geschichtschreibung:
Wahrhaftigkeit und Unbestechlichkeit, auögedrückt.

Die weltlichen Wiffenschaften: Naturwiffenschaft, Mathematik, Jurisprudenz und
Geschichtswissenschaft, dürfen und können aber im Ordensleben nicht die Hauptsache sein.
DaS monastische Leben muß seinen Höhepunkt finden in der G l a u b e n S Wissen-
schaft und im Glaubenslcben. Darum stehen an der Westseite (Eingangsseite)
noch zwei Figuren: eine Gestalt im Hermelinmantel, daS Birett auf dem Haupte, auf der

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