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Der Affenspiegel: satyrisch-politische Wochenschrift — 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.48645#0016
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I.
Sergei Antonowitsch Wolochin war fünfundvierzig
Jahre alt. „Noch jung genug", sagte er sich vor einem
Jahr, indem er sich im Spiegel betrachtete.
„Mein Gott, wie bin ich alt geworden!" seufzte er
jetzt. „Ich habe in zu hastigen Zügen das Leben genossen.
Aber wenn mau am Honigtopf sitzt, muß man doch das
Süße kosten."
Für Sergei Antonowitsch galt die Welt insofern als
ein Honigtopf, weil hübsche Damen in der Welt waren.
Er erlebte gerne galante Abenteuer, und schöpfte somit das
Süße aus dem Topf.
Jetzt sollten sich bei Sergei Antonowitsch die Folgen des
Genusses aus dem Houigtopf einstellen. Seit ein paar
Monaten litt er am Podagra. An manchen Tagen traten
die Unfälle so heftig auf, daß er der Möglichkeit des Gehens
beraubt war.
Entsetzlich! Nicht so sehr wegen des Schmerzes, als
wegen des Umstandes, daß Sergei Antonowitsch nicht mehr
spazieren gehen konnte um vier Uhr Nachmittags, wo die
elegante weibliche Welt auf der N-Straße lustwandelte-
Sergei Antonowitsch wollte gerne zehntausend Rubel ver-
lieren, wenn er dafür den Gebrauch seiner Beine wieder
erlangen würde.
Das Jmzimmersitzen war in der That nicht mehr
zum Aushalten. Eines Nachmittags faßte unser Don-Juan
den festen Entschluß, doch in die Lebewelt hinauszugehen;
er konnte ja in einer Droschke die Srraßen entlang fahren
— langsam, recht langsam, damit er mit dem Strom der
Passanten Schritt hielt und die einzelnen Schönheiten daraus
sich zu Gemüte ziehen konnte. Auch Augen können ge-
nießen, nicht nur andere Körperorgane.
Sergei Antonowitsch machte mit Hilfe seines Dieners
Toilette, und trat dann, auf den Stock gestützt, vor den
Spiegel. Ach ja, die Runzeln im Gesicht und die zu starke
Röte des Teints hätte der Lebemann weggewünscht, aber
trotzdem war er seiner Ansicht nach noch ein schneidiger,
hübscher Kerl. Das reiche, schwarze Haar nahm sich sehr
gut aus, es hob mit seiner Farbe, seinem Schimmer den
Gesichtsausdruck, und wenn er so mit den Augen blinzelte
und dazu lächelte — Sergei Antonowitsch hatte diese Knust
schon längst vor dem Spiegel einstudiert — so konnte mau
wohl fragen, welches Weib würde dem gegenüber von
Stein sein?
II.
Sergei Antonowitsch fuhr in einer Droschke im Schritt
die Hauptstraße entlang; er saß in einer Ecke des Wagens,
weich angelehnt, und ließ so die lustwandelnde elegante Welt
Revue passieren. „Lbarmant, otrarmant!" bewunderte er, und
hielt das Binocle vor die Augen.
Plötzlich kam ein wohlbeleibter Herr mit einer jungen
Dame aus der Mitte der Passanten aus den Wagen zu.
Matwei Alexejewitsch Archistow, der Großhändler
in Leder, war es mit seiner Tochter Sonja. Der Händler
spekulierte schon lange darauf, daß Sergei Antonowitsch
sein Schwiegersohn werde. Und die Sonja, obgleich zu jung
für Sergei Antonowitsch, warf ihm verliebte Blicke zu. Der
Junggeselle erriet sehr gut, warum er begehrt wurde, —
seines Geldes wegen. Aber er wollte von einer Heirat
unter allen Umständen nichs witssen, weil ein an die Fran
gebundener Mann ihm zu schrecklich vorkam. Der Ehemann
mußte ein Gefangener in Ketten sein.
Matwei Alexejewitsch und Sergei Antonowitsch be-
grüßten und unterhielten sich, und für Sonja mußte der bein-
lahme Sausewind wohl oder übel Komplimente finden.
Währenddessen ging gerade eine junge stattliche Dame von

Wann der Lebemann heiratet.
Von ^.cko Uarrotoiu.
starken Formen vorüber. Rasch wollte Sergei von dem
Händler Abschied nehmen, nm der Dame nachzufahre». Die
Krämerseele hielt ihn aber fest, denn er mußte ihm noch
seine Wut über den Rückgang der Lederpreise ausschütten.
Als er endlich mit Sonja fortging, war von der
schönen Passantin nichts mehr zu sehen.
Verdrießlich fuhr Sergei Antonowitsch weiter, und
verwünschte alle guten Bekannten und ihre Unterhaltung.
Da kam ein reizendes blondes Mädchen ihm-entgegen.
„Nicht übel! Bei Gott, nicht übel!" / K
Sergei befahl dem Kutscher umzukehren und der iTame
zu folgen.
Aber da kam wieder ein Herr aus dem Passanten-
strom auf den Don Juan zu. Es war der Privatsekretär
Fomin, auch wieder ein Bekannter von ihm.
„Hab' keine Zeit, Michail Alexandrowitsch!" rief
Sergei ihm zu. Aber der Störenfried ließ sich nicht ab-
weisen. Als er endlich ging, war auch das blonde hübsche
Mädchen fort.
Jedoch gleich stellte sich Ersatz ein. Es kam eine
kleine, zartgebaute Brünette von der Klasse der „Zerbrech-
lichen" die Straße daher, Sergei Antonowitsch entgegen.
Sie war ein verführerisches Ding, wirklich allerliebst, be-
sonders das Haar.
Sergei Antonowitsch befahl dem Kutscher, wieder
umzukehren, damit er die Kleine verfolgen könne.
Aber auch dieses Mal sollte es ohne Störung nicht
abgehen. Es war nun einmal ein böser Tag. Ein Passant,
Andrei Hijtsch Wiskowatow, lief vom Trottoir zu Sergei's
Wagen. Sergei wollte sich durchaus nicht mit ihm ein-
lassen, indessen als er hörte, daß der Mann eine alte
Schuld an ihn abtragen wollte, mußte er schon Zeit für
ihn übrig haben. Gott weiß, wann der leichtsinnige Andrei
Hijtsch wieder einmal Geld haben würde.
Als das Geschäft erledigt war, ließ Sergei rasch
fahren, um die kleine Brünette einzuholen. Vergeblich, die
Schöne war verschwunden.
Voll Ärger befahl Sergei jetzt in eine andere, weniger
vornehme Straße zu fahren, wo auch Damen promenierten,
aber der Verkehr schwach war. Hier in der Hauptstraße
konnte sich immer und immer wieder irgend ein Bekannter
finden, der ihn in seinen Plänen störte. Zu Wagen war
die Galanterie unter diesen Umständen eine ganz ver-
zweifelte Sache.
III.
In dieser andern Straße hatte Sergei Antonowitsch
gleich Glück. Er traf wieder eine Brünette, aber keine so
kleine. Eine nicht ganz ich'anke Figur, in den Hüften
etwas fesch, und ein voller Busen. Sie trug einen röt-
lichen Sonnenschirm. Von der Sonne drang ein Schimmer
durch den zarten edlen Stoff auf ihr Gesicht und erzeugte
eine faszinierende Wirkung. Das Gesicht des jungen
Mädchens leuchtete, als strotze es von Blut und Lebens-
fülle, und erschien so zart, wie auf idealisierten Portraits.
Sergei Antonowitsch'sHerz wollte zerspringen vor Freude.
Das war mal ein Menschenkind — ja, so etwas!
Bei näherem Zusehen kam ihm das Mädchen bekannt
vor. Ob er sie nicht schon irgendwo kennen gelernt hatte?
Seiner Abenteuer waren so viele, daß er sich jedes einzelnen
unmöglich erinnern konnte. Er wollte schließlich bestimmt
behaupten, daß er mit dem schönen Mädchen in Berühr-
ung gekommen war.
Alles wollte Sergei Antonowitsch jetzt darum geben,
wenn er aus der dummen Droschke hätte aussteigen und dem
hübschen Mädchen sein Geleit antragen können. Daß sein

galantes Leben sich jetzt an ihm so hart durch Podagra
rächte, konnte ihn noch zur Verzweiflung bringen.
Er fuhr neben dem lustwandelnden Mädchen längs des
Trottoirs im Schritt einher. Endlich bemerkte sie ihn. Er
zog höflichst den Hut, sie nickte. Erst that sie erstaunt,
aber dann schwebte ein Lächeln über ihr Gesicht.
Aber was weiter? Von der Droschke aus konnte
Sergei Antonowitsch doch kein Gespräch mit ihr anknüpfen?
Und sie gleich einzuladen, in die Droschke zu steigen und
neben ihm Platz zn nehmen, war noch unmöglicher.
Sergei Antonowitsch sann, auf welche Weise er eiue
Annäherung herbeiführen könnte. Dabei weidete er seine
Äugen an den Reizen der seltenen Jungfrau, und so be-
merkte er, daß sie ein paar mal unter dem schützenden
Sonnenschirm verstohlen und voller Schalkhaftigkeit nach
ihm schaute.
Das freute Sergei Antonowitsch. Kein Zweifel, das
Terrain war frei, er brauchte blos die Hand auszustrecken,
um in den Besitz des kostbaren Schatzes zu gelangen.
Aber wie sollte er das anfangen,— wie?
Plötzlich sagte er dem Kutscher, er solle an dem Mädchen
vorüberfahren. Dann ließ er wieder die Pferde ganz lang-
sam gehen, in der Absicht, sich von dem Mädchen einholen
zu lassen. Das war eine List, denn jetzt wußte der Lebe-
mann, wie er das Vöglein fangen konnte.
Die Angeschwärmte kam schon so nahe, daß sie fast der
Droschke seitwärts gegenübcrstand. Sergei Antonowitsch
lüftete wieder höflich den Hut und — sah nur noch, wie
das Mädchen nach der andern Seite abzog und eine niedrige
Treppe emporstieg. Auf der Treppe warf sie ihm lachend
ein Kußhändchen zu. Sergei Antonowitsch war perplex. Die
Treppe, welche das junge Mädchen hinaufgeschritten war,
führte in die Passage. Der Vogel entwischte ihm gerade
in dem Moment, wo er ihm die Schlinge legte. Das durfte
er nicht geschehen lassen. Sergei Antonowitsch befahl dem
Kutscher, schleunigst durch die nächste Quergasse in die be-
nachbarte Läugsstraße zu fahren, in welche die Passage
ausmündete. Ans Ziel gelangt, sah Sergei Antonowitsch
sich nach allen Seiten um, aber das Mädchen kam nirgends
znm Vorschein. Er wartete eine Weile, — auch vergeblich.
Selten ist Sergei Antonowitsch so ärgerlich gewesen, wie
jetzt, als er unverrichteter Dinge nach Hause fahren mußke.
Sein Podagra stand zwischen ihm und seinen herrlichen
Träumen; er war von der Welt abgeschnitten.
IV.
Am andern Tage erhielt der Don Juan einen Brief,
der lautete: „Sergei Antonowitsch, schämen Sie sich. Ich
habe gestern in der Passage lange auf Sie gewartet, an
derselben Stelle, wo wir uns damals trafen. Sie wissen
schon, wo. Aber Ihnen fiel es gar nicht ein, mich aufzu-
fiichen. Schämen Sie sich. Auch ich will jetzt nichts mehr
mit Ihnen zu thun hüben. Sascha."
Sergei Antonowitsch sah wie eine Beute des Un-
glücks aus, als er den Brief gelesen hatte. Er hatte viel
verloren und das machte ihm das Herz schwer. Sascha hieß
das hübsche Ding. Indes — er konnte sich ihrer nicht ent-
sinnen. Nur ihr Gesicht kam ihm bekannt vor. Er hatte in
seinen schönen Jahren viele Saschas kennen gelernt.
Eins stand aber fest: Von der Droschke aus ging's
nicht mit Galanterien. And als er darüber eingehender
nachdachte, daß seine Podagraanfälle in letzter Zeit immer
häufiger wiederkehrten, kam er auf den Gedanken, ob er
schließlich nicht doch heiraten sollte.
In den nächsten Tagen, wenn sein Bein besser
geworden, wollte Sergei Antonowitsch dem Händler Archistow
wegen seiner Sonja einen Besuch machen.

Der Affetispiegel": Redigiert und herausgegeben von Robert Heyman», Amalienstraße 18/2. Verantwortlich für die Redaktion: Valentin Karl. Verlag: „Frührot".
Druck: R. Heymann, Llndwurmstraße 30 Sämtliche in München.
 
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