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Andreas Rumpf
Ehe man jedoch den Schritt unternimmt, deshalb die Werkstatt
unserer Vasen in Eretria anzus’etzen, scheint es angebracht, die jetzt in
den Inscriptiones Graecae XII 9 gesammelten Inschriften aus Euboia
daraufhin durchzusehen, ob auch nach den Funden seit Kirchhoffs grund-
legenden ‘Studien’ die Voraussetzungen, auf die er seine Trennung der
chalkidischen von der eretrischen Schrift gründete, noch zutreffen. Von
entscheidender Wichtigkeit sind hier I. G. XII 9 Nr. 1273,1274 {'Aqyaio-
).oyixi] 'EqnjfiEQis 1913, 210 ff.), eine Gesetzesinschrift aus Eretria, also
eine Staatsurkunde, die uns das dort etwa um Mitte des VI. Jahrhunderts
übliche Alphabet kennen lehrt. Sie ist, wie das sechsmal erhaltene \ = l
zeigt, in Kirchhoffs chalkidischem Alphabet abgefaßt. Von den privaten
Inschriften aus Eretria haben dieses Lambda Nr. 298 und 895, ferner eine
aus Zarax Nr. 75, wahrscheinlich auch Nr. 41 aus Karystos, sicher Nr. 55
aus Styra. Das heißt das ‘chalkidische’ Alphabet herrschte vor dem erst
aus den Bleitäfelchen von Styra (I. G. XII 9 Nr. 56) erschlossenen ‘eretri-
schen’ im Südteil der Insel; aus dem Norden fehlen bisher archaische
Inschriften überhaupt. Das Alphabet des letztgenannten Fundes von
Styra, das sich durch das Ersetzen von O durch K als jünger zu erkennen
gibt, weicht außerdem nur in der Übernahme des östlichen A von dem
der älteren Inschriften ab. Ohne aus diesem reichen Zufallsfund auf der
an archaischen epigraphischen Denkmälern so armen Insel, der uns in
der zwar überaus großen Fülle von Namen doch nur e i n Stadium der
Entwicklung erhalten hat, zu weit gehende Folgerungen ziehen zu wollen,
dürfen wir immerhin vermuten, daß auch hier, wie wir es in Attika an
zahlreichen gemalten und geritzten Vasenaufschriften, an privaten, ja
selbst an öffentlichen Steinurkunden beobachten könnenx), lange vor
der staatlichen Übernahtne des ionischen Alphabets einzelne Zeichen des-
selben in die Schrift des täglichen Gebrauchs eingedrungen waren.
Diese Erkenntnis, daß das ‘chalkidische’ Alphabet das älter euböische
ist, bedingt eine erneute Nachprüfung des Entstehungsortes der chal-
kidischen Vasen. Ihre Inschriften sind nach Alphabet und Dialekt sicher
euböisch. Auf Euboia käme außer Chalkis doch wohl nur Eretria für eine
so entwickelte und weitverbreitete Topfware in Frage. Hier sind wir
4) Kirchhoff, Stud. z. Gesch. d. gr. Alph.4 93 ff.; Kretschmer, Gr. Vasen-
inschr. 103 ff.; Münch. arch. Stud. d. And. Furtwänglers gew. 76 ff. (Hackl);
Larfeld, Handb. der gr. Epigraphik I 397; Ders., Gr. Epigr. 256.
Andreas Rumpf
Ehe man jedoch den Schritt unternimmt, deshalb die Werkstatt
unserer Vasen in Eretria anzus’etzen, scheint es angebracht, die jetzt in
den Inscriptiones Graecae XII 9 gesammelten Inschriften aus Euboia
daraufhin durchzusehen, ob auch nach den Funden seit Kirchhoffs grund-
legenden ‘Studien’ die Voraussetzungen, auf die er seine Trennung der
chalkidischen von der eretrischen Schrift gründete, noch zutreffen. Von
entscheidender Wichtigkeit sind hier I. G. XII 9 Nr. 1273,1274 {'Aqyaio-
).oyixi] 'EqnjfiEQis 1913, 210 ff.), eine Gesetzesinschrift aus Eretria, also
eine Staatsurkunde, die uns das dort etwa um Mitte des VI. Jahrhunderts
übliche Alphabet kennen lehrt. Sie ist, wie das sechsmal erhaltene \ = l
zeigt, in Kirchhoffs chalkidischem Alphabet abgefaßt. Von den privaten
Inschriften aus Eretria haben dieses Lambda Nr. 298 und 895, ferner eine
aus Zarax Nr. 75, wahrscheinlich auch Nr. 41 aus Karystos, sicher Nr. 55
aus Styra. Das heißt das ‘chalkidische’ Alphabet herrschte vor dem erst
aus den Bleitäfelchen von Styra (I. G. XII 9 Nr. 56) erschlossenen ‘eretri-
schen’ im Südteil der Insel; aus dem Norden fehlen bisher archaische
Inschriften überhaupt. Das Alphabet des letztgenannten Fundes von
Styra, das sich durch das Ersetzen von O durch K als jünger zu erkennen
gibt, weicht außerdem nur in der Übernahme des östlichen A von dem
der älteren Inschriften ab. Ohne aus diesem reichen Zufallsfund auf der
an archaischen epigraphischen Denkmälern so armen Insel, der uns in
der zwar überaus großen Fülle von Namen doch nur e i n Stadium der
Entwicklung erhalten hat, zu weit gehende Folgerungen ziehen zu wollen,
dürfen wir immerhin vermuten, daß auch hier, wie wir es in Attika an
zahlreichen gemalten und geritzten Vasenaufschriften, an privaten, ja
selbst an öffentlichen Steinurkunden beobachten könnenx), lange vor
der staatlichen Übernahtne des ionischen Alphabets einzelne Zeichen des-
selben in die Schrift des täglichen Gebrauchs eingedrungen waren.
Diese Erkenntnis, daß das ‘chalkidische’ Alphabet das älter euböische
ist, bedingt eine erneute Nachprüfung des Entstehungsortes der chal-
kidischen Vasen. Ihre Inschriften sind nach Alphabet und Dialekt sicher
euböisch. Auf Euboia käme außer Chalkis doch wohl nur Eretria für eine
so entwickelte und weitverbreitete Topfware in Frage. Hier sind wir
4) Kirchhoff, Stud. z. Gesch. d. gr. Alph.4 93 ff.; Kretschmer, Gr. Vasen-
inschr. 103 ff.; Münch. arch. Stud. d. And. Furtwänglers gew. 76 ff. (Hackl);
Larfeld, Handb. der gr. Epigraphik I 397; Ders., Gr. Epigr. 256.