und Verkürzungen des menschlichen Körpers zunächst an der Natur,
zur Zeit künstlerischer Reife auch aus dem Gedächtnisse erprobte.
Ebenso wurde das schwierige, kompositionelle Zusammenfassen
vielfiguriger Darstellungen oder einzelner Gruppen unter dem
Gesichtspunkte einer einheitlichen Lichtquelle, ob zentral
wirkend oder zerstreut, auf dem Papier klargemacht. Seit Tintoretto
begegnen uns bald Einzelfiguren, bald ganze Kompositionsskizzen
mit grellen Lichtern und Vollschatten, die in immer neuer Weise
natürlich und raffiniert gesuchte Effekte im kleinen Maßstabe
anstrebten und den Raum eroberten.
Eine große Aufgabe der Kunst war das Beobachten und
Herausarbeiten seelischer Vorgänge, die Charakterisierung
der Köpfe durch ein Innenleben. Die Frührenaissance
kannte nur — und zwar ziemlich weit herauf — das ergebungs^
volle Lächeln, den erstarrten Schmerz, den anbetenden Blick und
für Zornesempfindungen die übertreibende Grimasse; Typen, die
vom Meister auf den Schüler übergingen. In der Gotik waren
diese Gesten nur symbolisch angedeutet. Ausdrucksäußerungen
Giottos, wie das gramvolle Denken des zu den Hirten schreitenden
Joachim (Padua), bedeuteten wohl künstlerische Ereignisse innere
halb der Entwicklung eines Genies, blieben aber, weil verfrüht,
ohne weitere Konsequenzen. MantegnasJohannes (B.3), Leonardos
Abendmahl oder sein Karton zum Reiterkampf durchbrachen
den Gleichmut der Gesichter. Wie Zeichnungsreste beweisen,
wurde auch dieses neue Thema mit dem Stifte in Angriff genommen.
Weit ergebnisreicher gewähren 150 Jahre später Rembrandts
Studien den Einblick in das Losringen der psychischen Vorgänge.
Hunderte von Zeichnungen entsprangen nur dem Bestreben, mit
der rasch arbeitenden Feder ein und dasselbe Thema so lange
zu behandeln, bis alle Gefühlsäußerungen in richtiger Abstufung
in stenogrammartigen Strichen auflebten.
Schließlich erfuhr die Landschaft des 16. und 17. Jahr^
hunderts vor der Natur oder in kompositioneller Umformung
auf zeichnerischem Wege Entwicklung und Förderung. »Die
Zeichnung umfaßt Dreiviertel und noch Einhalb von dem, was
die Malerei ausmacht«, sagt Ingres. »Und wenn ich über meiner
Tür ein Schild aufzuhängen hätte, so würde ich darauf schreiben:
Ecole de dessin, ich weiß, daß ich Maler heranbilden würde.«
Greift diesen Erörterungen zufolge die Handzeichnung in die
wesentlichen Kunstaufgaben mittätig ein und gibt sie über Werden
und Wachsen der Kunstwerke selbst mancherlei Aufschlüsse, so
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zur Zeit künstlerischer Reife auch aus dem Gedächtnisse erprobte.
Ebenso wurde das schwierige, kompositionelle Zusammenfassen
vielfiguriger Darstellungen oder einzelner Gruppen unter dem
Gesichtspunkte einer einheitlichen Lichtquelle, ob zentral
wirkend oder zerstreut, auf dem Papier klargemacht. Seit Tintoretto
begegnen uns bald Einzelfiguren, bald ganze Kompositionsskizzen
mit grellen Lichtern und Vollschatten, die in immer neuer Weise
natürlich und raffiniert gesuchte Effekte im kleinen Maßstabe
anstrebten und den Raum eroberten.
Eine große Aufgabe der Kunst war das Beobachten und
Herausarbeiten seelischer Vorgänge, die Charakterisierung
der Köpfe durch ein Innenleben. Die Frührenaissance
kannte nur — und zwar ziemlich weit herauf — das ergebungs^
volle Lächeln, den erstarrten Schmerz, den anbetenden Blick und
für Zornesempfindungen die übertreibende Grimasse; Typen, die
vom Meister auf den Schüler übergingen. In der Gotik waren
diese Gesten nur symbolisch angedeutet. Ausdrucksäußerungen
Giottos, wie das gramvolle Denken des zu den Hirten schreitenden
Joachim (Padua), bedeuteten wohl künstlerische Ereignisse innere
halb der Entwicklung eines Genies, blieben aber, weil verfrüht,
ohne weitere Konsequenzen. MantegnasJohannes (B.3), Leonardos
Abendmahl oder sein Karton zum Reiterkampf durchbrachen
den Gleichmut der Gesichter. Wie Zeichnungsreste beweisen,
wurde auch dieses neue Thema mit dem Stifte in Angriff genommen.
Weit ergebnisreicher gewähren 150 Jahre später Rembrandts
Studien den Einblick in das Losringen der psychischen Vorgänge.
Hunderte von Zeichnungen entsprangen nur dem Bestreben, mit
der rasch arbeitenden Feder ein und dasselbe Thema so lange
zu behandeln, bis alle Gefühlsäußerungen in richtiger Abstufung
in stenogrammartigen Strichen auflebten.
Schließlich erfuhr die Landschaft des 16. und 17. Jahr^
hunderts vor der Natur oder in kompositioneller Umformung
auf zeichnerischem Wege Entwicklung und Förderung. »Die
Zeichnung umfaßt Dreiviertel und noch Einhalb von dem, was
die Malerei ausmacht«, sagt Ingres. »Und wenn ich über meiner
Tür ein Schild aufzuhängen hätte, so würde ich darauf schreiben:
Ecole de dessin, ich weiß, daß ich Maler heranbilden würde.«
Greift diesen Erörterungen zufolge die Handzeichnung in die
wesentlichen Kunstaufgaben mittätig ein und gibt sie über Werden
und Wachsen der Kunstwerke selbst mancherlei Aufschlüsse, so
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