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schädlich zu machen, ihn aber doch am Leben zu lassen, so daß er den
Felsbrocken vom Höhleneingang wegwälzen kann, beschließt Odysseus,
ihn zu blenden.

Das ist möglich, weil der Riese nur ein Auge hat. Mit der Einäugigkeit
Polyphems hat es eine besondere Bewandtnis. Nach der Theogonie des
Hesiod15 gab es nur drei Kyklopen: Brontes, Steropes und Arges, Söhne
der Erde, Titanen, die den Göttern dienstbar wurden und Zeus den
Blitz, Poseidon den Dreizack und Pluton die Tarnkappe schmieden. Sie
scheinen einer alten Schicht der Mythenbildung anzugehören, während
die Kyklopen der Odyssee ein eigenes, nur hier begegnendes Geschlecht
sind.

Bedenkt man, wie notwendig die Einäugigkeit des Riesen für die Ent-
faltung des eigentlich dichterischen Gedankens ist, den Homer verfolgt,
dann kann man sich der Überlegung nicht erwehren, daß es der Dichter
selbst war, der dem Riesen die Einäugigkeit angedichtet und sich dabei
nur des Namens der Kyklopen bedient hat. Denn worum ging es Homer?
Um die märchenhafte, spannende oder unterhaltende Geschichte, die
schon Kinder fesselt, oder um die Darstellung einer Persönlichkeit, die
auf andere Weise als alle bisher von Dichtern geschilderten Menschen
mit bestimmten Situationen und gefahrvollen Erlebnissen fertig wird
und dadurch seiner Gefährten und seine eigene Heimkehr zu sichern
sucht. Toren nennt Homer die Gefährten, die nicht so handeln wie Odys-
seus und deshalb die Heimat nicht wiedersehen. So macht er noch einmal
deutlich, daß Odysseus ein Mensch besonderer, neuer Prägung ist.

Die neue Art zu denken und zu handeln zeigt sich besonders klar im
Polyphem-Abenteuer. Vor den entsetzten Augen der anderen hatte Po-
lyphem ohne weitere Umstände zwei Gefährten ergriffen. Er zerschlägt
ihnen den Schädel und frißt sie. Im Augenblick, da Odysseus erkennt,
daß er einen erbarmungslosen, durch keine Kultur und Gesittung zum
Guten zu stimmenden Gewalttäter vor sich hat, beginnt sein Geist zu ar-
beiten. Das Gastgeschenk, das ihn als Gastfreund sichern sollte, muß ihn
nun retten. Er will den Riesen mit Wein betäuben und töten, indem er
dem sinnlos Betrunkenen das Schwert in die Leber rennt.

Stellt man sich Achill in der gleichen Lage vor, so würde man anneh-
men, daß er auch vor einem direkten Angriff auf den Riesen nicht zu-
rückschrecken würde. Möglicherweise wäre ihm die Überlistung mit
Wein als wenig heldisch erschienen, und vielleicht hätte er den Riesen
aufgrund besseren Trainings und der geschickteren Handhabung der
Waffen töten können, so wie David den Goliath getötet hat. Doch auch
dann wäre er verloren gewesen. Denn wer hätte ihm den Stein vom Ein-
gang der Höhle weggewälzt?

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