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S. 245 DIESES Buch handelt von dem Bild, das die antiken Künstler sich

Hom'ers°in^ von ernem Menschen gemacht haben, der als Individuum nicht gelebt hat
Boston und doch lebendig bleibt, der keine historische Persönlichkeit ist und

doch zum Prototyp des dynamischen, eigenbestimmten, seine Fremdbe-
stimmung reflektierenden und bewußt auf sie reagierenden Menschen
geworden ist. Die von einem griechischen Dichter an der großen Wende
von der geometrischen zur orientalisierenden Kulturepoche gestaltete
Persönlichkeit konnte in James Joyces Roman »Ulysses« noch die Titel-
figur desjenigen Werkes werden, das die Geschichte der modernen Lite-
ratur eröffnet. Ein Mensch, der bis in unsere Tage hinein den Politikern
als Beispiel dient. Man bedenke nur, wie oft die berühmteste List des
Odysseus, das Trojanische Pferd, herhalten muß, um unheilschwangere
Vorgänge nicht direkt beim Namen nennen zu müssen.

Im Lauf der Untersuchung hat sich bestätigt, was immer wieder emp-
funden wurde, nämlich, daß das Inbegriffbild dieses Helden im Odysseus
der Polyphem-Gruppe von Sperlonga vor uns steht. Wäre der Kopf des
Odysseus in der Gruppe aus dem Nymphäum von Baiae erhalten, würde
er vielleicht dem Odysseus von Sperlonga an Rang nahe kommen. Auch
die verlorenen Köpfe des Odysseus aus der Palladionraub-Gruppe und
des nur hypothetisch erschlossenen Odysseus auf dem Schiff der Skyl-
la-Gruppe von Sperlonga boten vielleicht eine ähnliche Gestaltung des
göttlichen Dulders, des listenreichen Odysseus, dieser ungemein kom-
plexen dichterischen Schöpfung eines neuen vorbildlichen Menschenty-
pus. Verwandt ist ihm der Menelaos der Pasquino-Gruppe, verwandt
sind ihm auch andere hellenistische Bildschöpfungen. Auf jeden Fall
kommt man mit allen genannten Bildwerken in den gleichen Umkreis,
der auf eine bestimmte Phase der Umsetzung dieses von einem Dichter
entworfenen Charakters in ein mit den Augen zu erfassendes Bild ver-
weist, nämlich die jüngerhellenistische Kunst.

Es verdient einen Augenblick des Nachdenkens, daß erst ein halbes
Jahrtausend nach der dichterischen Schöpfung die bildende Kunst im
Laufe des 2. Jahrhunderts v. Chr. zu einem adäquaten, als gültig emp-
fundenen Ausdruck gelangte. Die römische Kunst hat dieses Bild der
Nachwelt tradiert. Der Wirklichkeitsgehalt des dichterischen Men-
schenbildes ist so groß, daß nur eine Kunstübung, die sich die Natur als
Lehrmeisterin gewählt hat oder richtiger auf ihrer geschichtlichen Ent-
wicklungsstufe zur Lehrmeisterin wählen konnte und mußte, ein Bild zu
schaffen in der Lage war, das als zutreffend angesehen wird.

Dabei ist jedoch nicht zu verkennen, daß die Übereinstimmung, die
hier zwischen Wirklichkeit und Natur hergestellt wird, eine Brechung in
das dichterische Bild gebracht hat, die man zumindest als weiterfüh-

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