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Das Motiv des rechten Knaben in der Laokoon-Gruppe, der mögli-
cherweise die Schlange abstreifen und dem Tod, der seinen Bruder
schon ereilt hat und dem der Vater geweiht ist, entgehen kann, ist in er-
staunlicher Weise dem Motiv des fliehenden Weinschlauchträgers ver-
wandt309. Beide haben das rechte Bein gestreckt, das linke gebeugt,
beide haben den Kopf zur Gruppe gewandt und den rechten Arm erho-
ben, den linken gesenkt. Aber beim Weinschlauchträger ist dies ein
räumlich aufgebautes, aus der Aktion sich ergebendes, wenn auch be-
sonders kühnes Bewegungsmotiv.

Bei der Laokoon-Gruppe wirkt es gekünstelt und in der Entwick-
lungsebene einer einansichtigen Gruppe310 festgehalten, die als Muster-
beispiel dieser späthellenistischen, also frühestens in die zweite Hälfte
des 2. Jahrhunderts v. Chr. zu datierenden Kompositionsform gilt. In ei-
nem datierten Denkmal begegnet sie zum ersten Male beim Kleinen At-
talischen Weihgeschenk um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.311.
Muß man das Urbild der Polyphem-Gruppe noch vor dieses in größere
Nähe zum Pergamonaltar rücken, so würde man den Laokoon gerne
später, d. h. nach der Jahrhundertmitte ansetzen.

Die Laokoon-Gruppe ist eine überaus kunstvolle Weiterentwicklung
der Komposition der Polyphem-Gruppe. Sie verdichtet das Geschehen
auf einen engen und flachen Raum und macht es so von einem einzigen
Punkt aus überschaubar, ohne daß man die Augen hin und herwenden
muß. Sie läßt das bewegte, räumliche Agieren der Figuren in der Poly-
phem-Gruppe zu einem bildhaften Vorgang gerinnen und stößt damit an
die Grenze plastischen Gestaltungswillens. Insofern ist sie tatsächlich ei-
nes der letzten Werke der griechischen Kunst, die in der Eroberung von
Körper und Raum ihr im Nachhinein erkennbares Ziel sah. Dieses Ziel
wird in der Laokoon-Gruppe erreicht, aber nicht überschritten. Dieses
Meisterwerk, das nicht umsonst die Aufmerksamkeit der größten Künst-
ler und Denker erregt hat, ist noch aus dem Vollen geschaffen, es klappt
nicht nach im 1. Jahrhundert v. Chr., d. h. in einer Zeit, die schon längst
zu ganz neuen optischen Erfahrungen eines transzendierenden Kunst-
wollens aufgebrochen ist.

Als Schöpfung ist die Laokoon-Gruppe in der Zeit voll entwickelten
römischen Kunstwollens unverständlich. Muß man die Marmorskulptur
im Vatikan aus äußeren Kriterien in die Zeit des Kaisers Tiberius datie-
ren, dann bleibt nur der hier vorgeschlagene Ausweg, sie, wie die Skulp-
turen von Sperlonga, als Kopie anzusehen. Dann jedoch ist besonders
bedeutungsvoll, daß die Kopisten oder ihre Auftraggeber die enge gei-
stige Beziehung, die zwischen dem Odysseus-Bild, wie es in Sperlonga
überliefert ist, und dem Gegenbild, das der Laokoon bietet, offenbar er-

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