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Andreae, Bernard
Schönheit des Realismus: Auftraggeber, Schöpfer, Betrachter hellenistischer Plastik — Mainz, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.14992#0213

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Boethos, Sohn des Athenaios, von Kalchedon: Der Ganswürger

kann und keine besondere Ansichtsseite hat. Allein, wenn man es
länger betrachtet, gewahrt man, dass es doch einen einzigen genau
fixierten Punkt gibt, von wo man den lustigen Ringkampf zwischen
Kind und Gans am besten sehen kann. Er liegt auf der rechten Seite
des Knäbleins, wo man sein Köpfchen im Profil sieht, den Hals der
Gans vor seinem herausgestreckten Bäuchlein und den einge-
klemmten Flügel hinter seinem Rücken. Der Hinterleib der Gans
und das vorgestellte linke Bein des Knäbleins bilden eine gleich-
mässig geschwungene Brückenlinie, auf der sich die chiastisch ver-
spannten höheren Elemente der Komposition, der nach links ge-
neigte Oberkörper des Knäbleins und der nach rechts gestreckte
Hals und Schnabel der Gans nach oben erheben. Das rechte, zur Sei-
te gestellte Beinchen des Knäbleins steht senkrecht zu der sich in der
Blickebene spannenden Brückenlinie. Dass dies die vom Künstler
gewollte Ansichtsseite ist, zeigt die Tatsache, dass in den besten Ko-
pien, die aus der sogenannten Villa der Quintilier an der Via Appia
bei Rom stammen und auf die Sammlungen in der Glyptothek in
München, im Vatikan, im Louvre und im Kunstmuseum in Genf
verstreut sind, in dieser Ansicht das zur Seite gestellte Bein die
sechskantige Stütze unter dem Leib der Gans verdeckt, die bei der
Umsetzung des Bronzeoriginals in eine Marmorkopie notwendig
wurde.

In diesem Werk Hess Boethos seiner Phantasie freien Lauf. Aber
stilistisch bereitet er die sogenannten einansichtigen hellenistischen
Gruppen vor, deren Musterexemplar die Laokoongruppe ist. Er
geht darin noch über die Dirkegruppe hinaus oder ist ihr in dieser
Hinsicht mindestens gleich. Das könnte man wohl nur entscheiden,
wenn man die Dirkegruppe in einer gegenüber dem Original so
wenig veränderten Form kennen würde wie die miteinander völlig
übereinstimmenden besten Kopien der Gruppe des Ganswürgers.

Die Daten, die man über das Leben des Boethos von Kalchedon
kennt, beweisen ohnehin, dass die Dirkegruppe und die Gruppe des
Ganswürgers annähernd zeitgleich sein müssen. In seiner Jugend
wurde Boethos, der Sohn des Athenaion, aus der kleinasiatischen
Stadt Kalchedon, die wie Tralleis auf pergamenischem Gebiet lag,
von einem gewissen Ainesidamos adoptiert. Das geschah in Lindos
auf Rhodos zur Zeit des Athenapriesters Panaitios, des Sohnes des
Nikagoras. Die Amtszeit dieses Priesters kann mit ziemlicher Si-
cherheit um 184 v. Chr. datiert werden. Zwischen 166 und 164 v. Chr.
war Boethos so berühmt, dass er den Auftrag erhielt, für die Insel
Delos ein Bronzestandbild des schon erwähnten syrischen Königs
Antiochos IV. Epiphanes (175-164 v. Chr.) zu schaffen, von dem lei-
der nur der Inschriftsockel an Ort und Stelle erhalten blieb. Etwa zur
gleichen Zeit schufen Apollonios und Tauriskos die Dirkegruppe in
Rhodos.

Man neigt dazu, diese Gruppe für wenig älter zu halten als die

Ganswürger
des Boethos
Genf, Musee d'Art
et d'Histoire

Antiochos IV.
(175-164 v. Chr.)
Berlin, Staatl. Mus.
Antikens.

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