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Architectura: Zeitschrift für Geschichte und Aesthetik der Baukunst — 1.1933 [ISSN 2365-4775]

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Nr. 2
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Delius, Hellmut: Vitruv und der deutsche Klassizismus: C. F. Schinkel und F. Weinbrenner
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https://doi.org/10.11588/diglit.19241#0075

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wurde aber doch seinem ganzen Sinne nach, ich
möchte fast sagen instinktmäßig, verstanden. Ja,
diese Lehre Vitruvs gerade hat wohl wesentlich
dazu heigetragen, seine Autorität in dieser
Epoche zu befestigen.

Es ist ebenso bezeichnend, daß die archäo-
logisch und philologisch viel gebildetere helleni-
stische Epoche ihn gar nicht verstand, wohl weil
ihr eben die gleichen praktischen Gesichts-
punkte für die praktische Ästhetik — denn um
diese handelt es sich hier — fehlten. Der
Schinkelsche und nachschinkelsche „Klassizis-
mus" ist mit dem Inhalt der Vitruvkapitel über
die Entwurfslehre ganz ohne Berührung geblie-
ben, denn von einer Erfassung der von Vitruv
vertretenen architektonisch-räumlichen Auffas-
sung ist in seinen Werken nichts zu spüren. Von
da ab wird Vitruv immer weniger gewertet, ob-
wohl uns ohne Zweifel die im zweiten Kapitel
des I. Buches gegebene Entwurfslehre Vitruvs
ein viel tieferes Verständnis der architektoni-
schen Schöpfungen tind ihres inneren Zusammen-
hanges mit den architektonischen Anschauungen
der Antike zu geben vermag als die fragmen-
tarische Hinterlassenschaft antiker Kunstdenk-
mäler. Schinkel behauptet zwar, „die wenigen
Überreste stellen uns den geistigen Zustand des
Altertums weit deutlicher dar als alle Schrift-
steller" (Nachl. Bd. III, S. 361); das beweist je-
doch nur, daß er diese Schriftsteller, also vor
allem Vitruv, in ihrem architektonischen Den-
ken nie verstanden hat. Dagegen ist kein
Zweifel, daß die Renaissance und damit mittel-
bar die Barockzeit, in starke geistige Berührung
mit dem Inhalt dieser ersten Vitruvkapitel ge-
treten sind.

Man erklärt den Klassizismus meist so obenhin
als eine erneute Aufnahme antiker Formen in
der Baukunst. Aber das ist in Wirklichkeit gar
keine Erklärung. Auch Renaissance und Barock
haben diese antiken Formen immer wieder in
sich aufgenommen. Keine Zeit nimmt überhaupt
oder kann auch nur eine andere in dem Sinne
in sich aufnehmen, sondern sie kann nur immer
zu ihr, d. h. zu den in ihren Schöpfungen ver-
körperten Problemen Stellung nehmen.

Was uns in der Frage „Schinkel und Vitruv" am
meisten interessiert, ist nicht die architekto-
nische Proportionslehre, über die in Anlehnung
an Vitruv viel und dauernd geschrieben worden
ist. Die Anwendung dieser Lehre, deren rich-
tiger Kern der ist, daß die Proportion, d. h. das

Verhältnis der Einzelteile zum Ganzen das
eigentlich Wesentliche der architektonischen
Wirkung ausmacht, und daß gewisse einfache
und deswegen sinnfällig gute Verhältnisse sich
durch Zahlenverhältnisse ausdrücken oder durch
ein einfaches graphisches Schema festlegen las-
sen, und erst recht nicht die „Anwendung klas-
sischer Formen", die ja bei Schinkel auch nur
auf wenige seiner Bauten beschränkt blieb, ge-
nügen jedoch keinesfalls, wie man nach Bodo
Ebhardt annehmen könnte, um eine Verwandt-
schaft der architektonischen Gesinnung zwischen
Vitruv und Schinkel zu begründen. Dazu gehört
eine Betrachtung der grundlegenden Gesichts-
punkte für das architektonische Schaffen ganz
allgemein.

Die künstlerischen Ziele der antiken Architekten
können nach Vitruv folgendermaßen ganz kurz
skizziert werden: die quantitative Entwurfswer-
tung bei Vitruv, die „eurythmia", ist die eigent-
liche, den Ausdruck des Bauwerks bestimmende
Grundforderung, aber nicht in dem Sinne der
Fassade, an die wir bei ästhetischen Anforde-
rungen zu denken geneigt sind. Vitruvs Anschau-
ung ist nur räumlich und körperhaft. Seine
Kunst ist dabei so wenig äußerlich, daß sie den
Begriff der „Fassade" überhaupt nicht kennt.
Er hat für diesen Begriff gar kein Wort, denn
„frons" ist ihm rein stereometrisch die Vorder-
seite bei jedem technischen Objekt, ohne die be-
sondere Bedeutung, die für uns im Begriff der
Fassade liegt. Die qualitative Wertung des Ent-
wurfs nennt Vitruv den „decor". Dieses von
Haus aus anständige Wort hat für ihn nichts von
dem fatalen Nebensinn, den es bei uns bekom-
men hat. Er bezeichnet damit den geistigen Ge-
halt des Entwurfs, der qualitativ ist, weil er den
imponderabilen Kern der Kunst bedeutet. Das
Verhältnis von eurythmia und decor wird zu-
treffend wiedergegeben etwa durch „Form und
Inhalt". Was Vitruv dann weiter über statio,
consuetudo, distributio usw. sagt, sind die grund-
legenden Gesichtspunkte für das architekto-
nische Schaffen ganz allgemein.

Wer geistige Berührung mit der Antike sucht,
kann sie nur hier finden, nicht in dem großen
Ausgrabungsregister mit seinen entwicklungs-
geschichtlichen Tatbeständen. Aber Schinkels
Klassizismus hat leider an dieser Stelle nie ge-
sucht; diese Dinge sind ihm gänzlich unbekannt
geblieben.

Ebhardt führt dann als Beweis für die Verwandt-

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