1905
ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 2
Entwurf zu einem Mausoleum für Herrn Dr. Naumann in Königsbrück bei Dresden. Architekt: Hermann Thüme in Dresden.
(Schnitt und Grundrifs auf Seite 16.)
Friedhofkunst.
Von C. Zetzsche in Berlin.
luch die alte Poesie der Friedhöfe ist dahin. Der be-
strickende Zauber des an weithinschauender Berg-
lehne gelegenen, im Sonnenschein wie unter Tränen
lächelnden Dorffriedhofes und der stille, weihevolle Frieden der
um die Kirche oder an die Stadtmauer geschmiegten alten Be-
Leichenhalle in Los Angeles (Cal.)
Aus »Architects’ and Builders’
Magazine«.
Architekten:
Train & Williams.
gräbnisplätze unsrer
Städte, wo sind sie
noch in ihrer köst-
lichen Einheit und
Reinheit der Stim-
mung erhalten?
Immer schneller
umschließen die wie
Polypenarme in die
Umgebung sich hin-
ausstreckenden Vor-
stadtstraßen auch
die neueren, vor
kurzem noch im Freien belegenen Ruheplätze der Toten; immer
rascher füllen sich deren Gräberreihen und immer weiter hinaus
müssen die weiten Gefilde für die Zentralfriedhöfe der großen
Städte geschoben werden.
Mit den wachsenden Entfernungen wird der altgewohnte
Gang nach dem Kirchhofe zu einer mehrstündigen und für
Minderbemittelte kostspieligen Fahrt, deren öftere Wiederholung,
wie sie zur sorgsamen Instandhaltung der Gräber durch die
Angehörigen unerläßlich wäre, sich bei den Anforderungen des
rastlosen Erwerbslebens schon durch den Zeitaufwand ver-
bietet. Nicht mehr wie einst können die Angehörigen in einer
Ruhepause oder nach Feierabend einige Augenblicke weihe-
voller Sammlung und dankbarer Erinnerung an den Gräbern
ihrer vorausgegangenen Lieben verbringen. Der weitentlegene
Zentralfriedhof mit seinen endlosen Reihen und gleichmäßigen
Abteilungen, mit den Tausenden und Abertausenden von Gräbern
bleibt ihnen fremd, wie die meisten der Toten selbst, die darin
ruhen. Kein vertrautes Grüßen im Vorübergehen mehr an der
Ruhestätte lieber Nachbarn, altvertrauter Freunde unsrer Jugend,
deren Grab-
stätte uns be-
kannt ist und
der Ruhe-
stätte unsrer
Lieben be-
nachbart, wie
ihr Haus nicht
weit von dem
unsrigen!
Wer nimmt
sich noch Zeit,
fremde Grab-
schriften zu
entziffern
beim Durch-
eilen der lan-
gen Reihen
gleichförmi-
ger Quartiere?
So schwin-
den ganz von
selbst die
innigen Be-
ziehungen,
welche die
Angehörigen
Eingangsturm des Stadtgottesackers zu Halle a. S. Erbaut 1592.
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ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 2
Entwurf zu einem Mausoleum für Herrn Dr. Naumann in Königsbrück bei Dresden. Architekt: Hermann Thüme in Dresden.
(Schnitt und Grundrifs auf Seite 16.)
Friedhofkunst.
Von C. Zetzsche in Berlin.
luch die alte Poesie der Friedhöfe ist dahin. Der be-
strickende Zauber des an weithinschauender Berg-
lehne gelegenen, im Sonnenschein wie unter Tränen
lächelnden Dorffriedhofes und der stille, weihevolle Frieden der
um die Kirche oder an die Stadtmauer geschmiegten alten Be-
Leichenhalle in Los Angeles (Cal.)
Aus »Architects’ and Builders’
Magazine«.
Architekten:
Train & Williams.
gräbnisplätze unsrer
Städte, wo sind sie
noch in ihrer köst-
lichen Einheit und
Reinheit der Stim-
mung erhalten?
Immer schneller
umschließen die wie
Polypenarme in die
Umgebung sich hin-
ausstreckenden Vor-
stadtstraßen auch
die neueren, vor
kurzem noch im Freien belegenen Ruheplätze der Toten; immer
rascher füllen sich deren Gräberreihen und immer weiter hinaus
müssen die weiten Gefilde für die Zentralfriedhöfe der großen
Städte geschoben werden.
Mit den wachsenden Entfernungen wird der altgewohnte
Gang nach dem Kirchhofe zu einer mehrstündigen und für
Minderbemittelte kostspieligen Fahrt, deren öftere Wiederholung,
wie sie zur sorgsamen Instandhaltung der Gräber durch die
Angehörigen unerläßlich wäre, sich bei den Anforderungen des
rastlosen Erwerbslebens schon durch den Zeitaufwand ver-
bietet. Nicht mehr wie einst können die Angehörigen in einer
Ruhepause oder nach Feierabend einige Augenblicke weihe-
voller Sammlung und dankbarer Erinnerung an den Gräbern
ihrer vorausgegangenen Lieben verbringen. Der weitentlegene
Zentralfriedhof mit seinen endlosen Reihen und gleichmäßigen
Abteilungen, mit den Tausenden und Abertausenden von Gräbern
bleibt ihnen fremd, wie die meisten der Toten selbst, die darin
ruhen. Kein vertrautes Grüßen im Vorübergehen mehr an der
Ruhestätte lieber Nachbarn, altvertrauter Freunde unsrer Jugend,
deren Grab-
stätte uns be-
kannt ist und
der Ruhe-
stätte unsrer
Lieben be-
nachbart, wie
ihr Haus nicht
weit von dem
unsrigen!
Wer nimmt
sich noch Zeit,
fremde Grab-
schriften zu
entziffern
beim Durch-
eilen der lan-
gen Reihen
gleichförmi-
ger Quartiere?
So schwin-
den ganz von
selbst die
innigen Be-
ziehungen,
welche die
Angehörigen
Eingangsturm des Stadtgottesackers zu Halle a. S. Erbaut 1592.
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