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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 27.1911

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Heft 11
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Muthesius, Hermann: Die Bedeutung des architektonischen Formgefühls für die Kultur unserer Zeit, [1]: Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Dresden 1911
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https://doi.org/10.11588/diglit.35084#0131

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1911, li.

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Seite 121.

4

Klosterkirche in Volders. Aufnahme von Architekt Max Schucan in Zürich.


Die Bedeutung des architektonischen Formgefühls für die Kultur unserer Zeit.
Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Dresden 1911.
Von Hermann Muthesius.

Wie es eine Weltgeschichte der Realitäten gibt, eine
Geschichte des Auf- und Abstiegs der Völker,
der Verschiebungen der Macht und des Reich-
tums, so gibt es auch eine Geschichte der geistigen
Strömungen der Zeiten. Macht man sich ein Bild von den
Gedankenrichtungen, die sich jeweilig in den Köpfen der
Generationen abspielten, so überrascht eine Beobachtung: Die
Geistestätigkeit der Menschen ist zu verschiedenen Zeiten ganz
verschieden in Anspruch genommen, ihr Sinnen und Trachten
jeweilig nur auf ganz bestimmte Ziele gerichtet. Wir sehen,
daß die Zeiten Spezialaufgaben erfüllen, so wie schließlich auch
jeder einzelne Mensch nur ein Spezialist ist.
So beobachten wir, daß vom achtzehnten Jahrhundert an
die Aufmerksamkeit der Menschheit nach der Richtung des ver-
standesmäßigen Erkennens gefesselt wird. An die Stelle eines
behäbigen Existenzgenusses tritt die bohrende Gehirnarbeit, an
die Stelle bis dahin gültig gewesener Dogmen und überlieferter
Vorstellungen der Zweifel an allem Bestehenden. Die Menschen
beginnen den Ursachen aller Erscheinungen nachzugehen. Die
Wissenschaft entwickelt die Methoden der exakten Forschung,
die auf reiner, unvoreingenommener Beobachtung begründet ist.
Sie baut das ganze Gebiet der Naturwissenschaften auf und
steigt in der Geschichte zu den letzten Urquellen grauer Vor-
zeiten hinab. Das Denken eines ganzen Jahrhunderts wird
unter den Gesichtspunkt der Aufklärung gestellt. Die un-
bezweifeltste aller Wissenschaften, die Mathematik, die durch
Leibniz die enorme Bereicherung des infinitesimalen Denkens
erfuhr, verband sich mit dem Gebiete der Naturwissenschaften,
die Vereinigung beider ergab die Technik. Die wissenschaftlich
begründete Technik hat, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts
geboren, das Denken des neunzehnten Jahrhunderts völlig mit

Beschlag belegt. Man kann die unerhörten Ergebnisse der
Technik, die heute zutage liegen, nicht anders erklären, als
daß die gesamte Geisteskraft der Menschen an ihrer Vorwärts-
entwicklung beteiligt war. Nur so ist es denkbar, daß hier in
einem Jahrhundert Erfolge erzielt werden konnten, die die
frühere Arbeit von Jahrtausenden in den Schatten stellen. Denn
die moderne Technik hat Ort und Zeit überwunden, sie hat die
Natur dem Menschen in einer Weise dienstbar gemacht, die
frühere Menschen nie für möglich gehalten haben würden.
Das Resultat dieser einseitigen Anspannung der Geistes-
kräfte war aber in anderer Beziehung kein erfreuliches. Denn
gewisse Täligkeiten, die die menschliche Leistung früher zur
Harmonie gerundet hatten, waren durch die einseitige Richtung
brachgelegt worden. Was vernachlässigt wurde, waren Geistes-
güter, die nicht auf eine mathematische Formel zu bringen und
nicht durch Forschung und Quellenstudium zu erschließen waren.
Es waren die der Menschheit aller Zeiten eigen gewesenen
Güter, die sich auf dem Gefühl, auf Empfindungswerten auf-
bauen, die im Religiösen, Poetischen, Transzendentalen, Künst-
lerischen niedergelegt sind. In der Nachlässigkeit, in der Gleich-
gültigkeit gegen diese Güter liegt eines der charakteristischen
Merkmale der heutigen Menschen, verglichen mit denen früherer
Zeiten.
Der Rückgang des Kunstempfindens war auf keinem Ge-
biete deutlicher sichtbar als auf dem Gebiete der Architektur,
die einem raschen Niedergang anheimfiel. Und nichts ist in dieser
Beziehung vielleicht bezeichnender für den Geist der Zeit, als
daß in derselben Zeit, in welcher die Konstruktion die höchsten
Triumphe feierte, das Gefühl für die höheren, auf dem Schön-
heitsgefühl begründeten Gesetze des Gestaltens mehr und mehr
sank und allmählich so gut wie ganz verloren ging. Was hier
 
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