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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 27.1911

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Heft 12
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Muthesius, Hermann: Die Bedeutung des architektonischen Formgefühls für die Kultur unserer Zeit, [2]: Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Dresden 1911
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https://doi.org/10.11588/diglit.35084#0148
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Seite 138.

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

1911, 12.

Aber bei aller Anerkennung der Verdienste der populären
Kunstpropaganda müssen wir uns über eins völlig klar sein:
Der Künstler geht seinen Weg unbekümmert um zeitweilig
populäre Volks- oder Modevorstellungen, die ihm nichts zu
lehren und nichts zu verbieten haben. Schließlich wird die
Kunst vom Künstler gemacht; in ihm allein ruht die Hoffnung
für die künstlerische Zukunft unserer Nation, in ihm ist das
Schicksal der Zeit gegeben. Alle Popularisierungsbestrebungen
schweben in der Luft, solange nicht ein genügender Bestand
an schöpferischen Kräften vorhanden ist, die mit ihrem Herz-
blut und unbekümmert um die populären Richtungen schaffen.
Aus dieser Quelle fließen die künstlerischen Leistungen einer
Nation, und aus dieser Quelle ist das geflossen, was wir als
Erfolg der letzten 15 Jahre heute mit Freude feststellen können.
Hieraus folgt die Unantastbarkeit, aber auch gleichzeitig
die hohe Verantwortlichkeit des schöpferischen Künstlers. Und
vielleicht gehört es auch zu den Aufgaben des Deutschen
Werkbundes, beide, nicht zuletzt aber das Verantwortungsgefühl
des Künstlers scharf hervorzuheben. Gerade heute, wo wir,
wie es scheint, in unserer Kunstbewegung wieder an einem
kritischen Punkte stehen, ist ein Mahnruf am Platze. Die letzten
Jahrzehnte haben eine gewisse Periodizität der Kunst-
anschauungen erkennen lassen, derart, daß ungefähr alle
15 Jahre die Richtung wechselte. Möge ein gütiges Schicksal
unsere Bewegung vor dem leichtsinnigen Richtungswechsel an
der jetzt eingetretenen Fünfzehnjahrwende bewahren! Noch
ist sie ja keineswegs schon fertig ausgereift, noch ist sie soeben
erst in den Besitz eines gewissen Kraftgefühls eingetreten,
noch befindet sie sich im allerersten Stadium ihres Eroberungs-
zuges auf das größere Publikum, noch fängt sie eben erst an,
die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich zu lenken. Und
wir sollten alles, was wir errungen haben, jetzt schon leicht-


Kirche in Lappacli, B.-A. Wasserburg.

sinnig beiseitewerfen, um eine neue Fahne aufzupflanzen?
Befürchtungen dieser Art entbehren vielleicht noch der Be-
gründung. Aber es fehlt selbst in den Reihen derer, die das
heute bestehende Gute mitgeschaffen haben, nicht an Spaß-
machern, die vor dem Publikum ihre grotesken Sprünge auf-
führen, um diesem in einer neuesten Phase der Innenarchitektur
die erwünschte Abwechslung zu bieten! An Leuten, die ver-
künden, daß gerade 1850 die Zeit wäre, in der die amüsantesten
Sachen gemacht worden wären, und daß es diese Zeit jetzt zur
Anerkennung zu bringen gälte. Sie verkünden jetzt dieselben
Sachen als musterhaft, über die sie vor 15 Jahren den Besitzer
mit Hohn beschütteten. Allerdings ist der Modezug der
mondänen Welt, die ja in ihrer ewigen Abwechslungssucht
nicht fähig ist, Werte zu erkennen, heute bei 1850 angelangt,
nachdem ihr die bisher geliebte Biedermeiermode, wie es
scheint, langweilig zu werden beginnt. Höher als die An-
passungsfähigkeit an solche Vorgänge muß uns aber das Be-
wußtsein des Ernstes unserer Situation stehen.
Denn große Werte stehen auf dem Spiel. Deutschland ist
das Land, auf das es bei der Stilentwicklung der Zukunft an-
kommen wird. Nachdem England den Grund für eine wirk-
liche Reorganisation der technischen Künste gelegt hatte, hat
es Deutschland verstanden, sich mit einem bewundernswerten
Aufgebot von Kraft und Energie die Führung im Kunstgewerbe
anzueignen. Wirklich konnte es dabei einen Augenblick scheinen,
als ob die Verwilderungen, die ein kunstabgewandtes Jahr-
hundert gebracht hatte, beseitigt werden könnten. Neue Hoff-
nungen waren erweckt, daß es möglich sein werde, der Zeit
zu trotzen und ein neues Schönheitsempfinden, begründet auf
der einzig möglichen, der selbständigen Leistung, zu errichten.
Dürfen wir in einer solchen Stunde in die Imitationen schlech-
tester Kunstepochen zurückfallen? Wenn Imitationen gewünscht
werden und wenn die Neigung vorliegt, sie zu liefern, warum
dann nicht dem Beispiel Frankreichs folgen, wo eifrig die Werke
der ausgezeichnetsten Epochen der Innenkunst kopiert und
immer wieder kopiert werden? Warum der Welt und dem Aus-
lande das Schauspiel bieten, daß der deutsche Geschmack trotz
allem doch noch so schlecht fundiert sei, daß er fähig sei,
ausgerechnet die Dinge nachzuahmen, mit denen wir in London
1851 unseren Bankrott erklärten?
In der Möglichkeit solcher leichtfertigen Sinnesänderungen,
wie sie hier vorliegen, ist auch ein Stück Charakteristik unserer
Zeit gegeben. Es herrscht Varietestimmung. Man fürchtet zu
langweilen, wenn man standhaft das Gute vertritt. Der Zug
der Unrast, der Nervosität, des flüchtigen Stimmungswechsels,
der das moderne Leben auszeichnet, findet auch seinen Nieder-
schlag in der Kunst. Wird die Architektur ihm trotzen können?
Sicherlich ist er mit ihrem innersten Wesen nicht vereinbar. Sie
hat das Stetige, Ruhige, Dauernde zu eigen, sie repräsentiert in der
durch Jahrtausende reichenden Tradition ihrer Formen gleich-
sam das Ewige der Menschheitsgeschichte. In gewissem Sinne
ist ihr daher die in den anderen Künsten heute herrschende
impressionistische Auffassung ungünstig. In der Malerei, zum
Teil auch in der Bildhauerei, in der Literatur, vielleicht selbst
noch in der Musik ist der Impressionismus denkbar und hat
sich weite Gebiete erobert. Der Gedanke an eine impressio-
nistische Architektur aber wäre einfach furchtbar. Denken wir
ihn nicht aus! Schon sind in der Architektur individualistische
Versuche unternommen, die uns in Schrecken versetzt haben,
wie sollten es erst impressionistische tun. Wenn irgendwo, so
ist für die Architektur das Typische das Erstrebenswerte. Denn
allein durch das allseitige und stetige Verfolgen desselben Zieles
kann jene Tüchtigkeit und unzweifelhafte Sicherheit zurückerobert
werden, die wir an der Architektur vergangener, in einheitlichen
Bahnen marschierender Zeiten bewundern. Ob nicht eines
Tages auch die Malerei und Bildhauerei wieder auf etwas
Ähnliches zurückkommen werden? Bedenklich muß doch
stimmen, daß die jetzt dort einsetzenden Bestrebungen, zum
Stil zurückzugelangen, nur mehr in den untersten Skalen des
Lallens der Urvölker vorgenommen werden. So sehr ist in
der kurzen Zeit der Trennung dieser Künste von der Mutter
Architektur diesen das Rückgrat geschwunden, so verhängnis-
voll macht es sich fühlbar, daß diesen Künsten das Archi-
 
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