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36 Eine Botschaft, Herr König! Das wundersame Vögelein ist wieder erschienen. Auf der Eiche
hat es gesessen, und nachdem es süß gesungen hatte, hat es also gesprochen:
Wenn Gold und Silber zusammenklingt
Und dem König sein Herz in Freuden springt:
Meine Kehle ihr letztes Liedlein singt.
Darauf ist es fortgeflogen.
Und noch eine Botschaft, Herr König, wills Gott, eine gute. Dies Brieflein! Der Gefangene
im Turm — —
In diesem Augenblicke erhielt die Sprecherin eine ungeheure Ohrfeige. Die Frau vom Sonnen-
garten war zuerst sprachlos und wie fest gewurzelt da gestanden. Als sie begriff, daß sie zu
spät komme, kam Leben in ihre Gestalt. Ihre Augen sprühten vor Zorn. Sie trat hinter die
Knieende und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Aber durch das Schallen tönte ein wunder-
feines helles Klingen, denn der Handschuh zerplatzte und das goldene Fingerlein schaute
heraus und hatte das silberne Ohrläppchen getroffen. Die Mißhandelte hatte die schlagende
Hand um den Knöchel gefaßt in voller Wut; aber wie sie das kleine goldene Fingerchen
anschaute, schmolz ihre Wut hin in Entzücken. Die andere aber hatte schon das silberne
Ohrläppchen geschaut und erkannt. Weinend vor Freude hatte sie sich auf das Lockenhaupt
niedergebeugt. Im nächsten Augenblick hielten sich die beiden umschlungen. Man hörte
nichts als ihr Schluchzen und die Worte: Schwester Montag! Schwester Sonntag! Verwundert
standen die Burgleute umher. Da hub auf einmal oben im Laub der Linde ein Vogel wunder-
voll zu singen an, so laut, daß es durch alle Winkel und Hallen schallte, und so süß, daß
alle Herzen weich wurden, und selbst der Köchin, die gerade ein Täublein schlachtete, sich
die Augen feuchteten.
Als das Lied geendet war, sprach der Vogel:
Jetzt hat Gold am Silber geklungen,
Des Königs Herz ist hochgesprungen,
Ich habe mein letztes Lied gesungen.
Als das Vögelein also gesprochen hatte, fiel es tot vom Baume herunter.
Die Leute aber fragten sich: Wo ist denn der König?
Er hat ein Brieflein bekommen, sagten einige. Es war ein großes Epheublatt, sagten andere.
Er war tief bewegt, als er es öffnete, wußten die dritten.
War er erschrocken? War er traurig? fragten die ersten. Nein, seine Augen haben gestrahlt,
sagten die zweiten. Aber wo ist er hin? Er ist in den Gefängnisturm gegangen, antworteten
die dritten.
In diesem Augenblick kam der König. Seine Augen strahlten, und an der Hand führte er
einen Mann. Das war niemand anders als der verkrüppelte Schleifer, den der Haushofmeister
hatte in den Turm werfen lassen.
 
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