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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0249

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4.5 Klassifikatorische Diagnostik und die empirische Bewährung der Klassifikationssysteme

4.5 Klassifikatorische Diagnostik und die empirische Bewährung der
Klassifikationssysteme

Auch die modernen Klassifikationen psychischer Störungen unterliegen der empirischen Bewährung
in der klinischen Praxis. Zunächst werden wir die Kriterien diskutieren, die an die empirische Über-
prüfung der Güte dieser Systeme angelegt werden (können). Da es nicht leicht ist, überzeugende
und gut operationalisierbare Validitätskriterien für klinische Diagnosen zu finden, spielt die Beurtei-
lerkonkordanz eine besonders große Rolle. Empirische Untersuchungen haben schon früh gezeigt,
daß die genaue Operationalisierung der Diagnosen entscheidend zur Verbesserung des gesamten
Systems beitragen kann. Dazu werden Untersuchungsansätze vorgestellt, die einmal die Fehler-
quellen früherer Systeme, andererseits die Täuschungsanfälligkeit dieser Taxonomien aufgezeigt
haben.

Auf der Basis moderner Taxonomien entstanden neue diagnostische Verfahren, die der klassifikato-
rischen Einordnung psychische Störungen dienen. Besonders vielversprechend sind dabei struktu-
rierte und standardisierte Interviewverfahren. Hier werden wir das Strukturierte Klinische Inter-
viewer DSM-IV (SKID), das Diagnostische Interview bei psychischen Störungen (DIPS) und das
Composite International Diagnostic Interview (CIDI) vorstellen. Neben der Beschreibung und An-
merkungen zur Handhabung wird ein besonderer Schwerpunkt auf Untersuchungen der wissen-
schaftlichen Güte der Verfahren gelegt. Dadurch können die Interviewverfahren verglichen und be-
sonders unbefriedigende Reliabilitätswerte einzelner Störungskategorien herausgestellt werden.
Abschließend werden Ergebnisse aus Feldstudien zur klinischen Nützlichkeit und Angemessen-
heit der ICD-10 vorgestellt.

Erste Analysen zur Gültigkeit der nosologischen Klassifikation wurden bereits in den
30er Jahren durchgeführt. Schon Masserman und Carmichael stellten 1938 in einer Un-
tersuchung fest, daß sich innerhalb eines Zeitraumes von einem Jahr über 40 Prozent der
psychiatrischen Diagnosen erheblich veränderten. Entscheidende Untersuchungen über
die Verläßlichkeit und Zulänglichkeit der Klassifikationssysteme wurden dann vor allem
in den 60-er und 70-er Jahren angestellt, die zur erheblichen Verbesserung der Systeme
führten.

Gütekriterien der Klassifikation. Zur Bewertung der Klassifikation und Diagnosestel-
lung lassen sich verschiedene Kriterien heranziehen, die allerdings nur teilweise mit den
Gütekriterien für andere Testverfahren übereinstimmen (Blashfield & Livesley, 1991).
Die Reliabilität spielt bei der Evaluation von Klassifikationssystemen die größte Rolle,
vor allem in Form der Übereinstimmung (Konkordanz) zwischen verschiedenen Dia-
gnostikern. In einigen Untersuchungen wurde auch die Retest-Reliabilität der Diagnosen
ermittelt; diese Forschungsstrategie hat jedoch den Nachteil, daß sich neben möglichen
Erinnerungseffekten des Diagnostikers auch substantielle Veränderungen des Klienten
auswirken können (durch Behandlung, durch lebensgeschichtliche Veränderungen,
„spontane" Besserung oder spezifische Verläufe, z.B. den Übergang von Alkoholab-
hängigkeit zur Alkoholpsychose bei Eintritt eines Delirs).

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