Die Cholera (1848-1855) 81
Meinungen kontrovers bleiben, schreitet man abschließend zu einer Abstimmung
über die wissenschaftlich richtigen Antworten und gelangt auf diese Weise zu
folgenden Resultaten:
ad 1.: Die Cholera ist eine lokale Krankheit, die ersten Erscheinungen spre-
chen für ein Befallenwerden eines Teils des Nervensystems,
ad 2.: Die Cholera ist eine Krankheit des Blutes, jedoch ist die Erkrankung
des Blutes bedingt durch die vom Nervensystem ausgehenden phy-
siologischen Störungen,
ad 3.: Die Cholera geht von einem Teil des Nervensystems aus mit fast
sofortiger Reflexwirkung auf das Blutsystem.73
Damit hat die Medizinische Sektion durch demokratische Entscheidung die
tatsächliche pathologische Kausalkette der Cholera auf den Kopf gestellt, und
dies trotz der Warnung Grafs, der daran erinnert, daß „seit Jahren die Wissen-
schaft den Weg der Hypothesen verlassen, und den der Thatsachen eingeschla-
gen habe, den sollte man nicht verlassen. Thatsache ist nur veränderter Chemis-
mus des Blutes, dieser allein wesentlich und immer constant. Ob vom Blut
ausgehend, oder veränderter Innervation, wird immer im Bereich des Unerklärten
bleiben"74. Doch die Worte des Medizinalrates zeigen keine Wirkung, die „Neu-
ralpathologen" erringen einen Abstimmungssieg, der allerdings mehr aus dem
persönlichen Prestige einiger Wissenschaftler (z. B. Siebert) als aus den besse-
ren Argumenten resultiert.
Im folgenden Jahr, auf der Greifswalder Versammlung 1850, meldet sich der
Wiener Cholera-Experte Rudolph von Vivenot zu Wort. Dieser hat bereits bei der
Epidemie von 1831 ein Werk mit dem Titel „Andeutungen über die vorgeblichen
und wirklichen Schutzmittel gegen die Cholera und die Behandlung der Erkrank-
ten; zusammengestellt nach den von seinem Vater und von ihm in Wien gemach-
ten Erfahrungen" herausgegeben. In Greifswald nun widerlegt er die Beobach-
tung amerikanischer Ärzte, die Cholera komme in schwefelhaltigen Gegenden
nicht vor, durch die schlichte Tatsache, daß „in Baden bei Wien diese Seuche
furchtbar gehaust habe"75. Dennoch bestätigt von Vivenot die Wirksamkeit eines
aus Schwefel und Kohle hergestellten Heilmittels, wie es von amerikanischen
Kollegen empfohlen werde, während Dr. Oswald Pohl, Assistenzarzt der Chir-
urgischen Klinik Greifswald, einwirft, daß von Berliner Ärzten dieses Mittel wegen
seiner Nutzlosigkeit bereits aufgegeben worden sei76.
Auf der Göttinger Versammlung 1854 treffen wir auf den 25jährigen Dr. Alfred
Vogel, Schüler des Münchener Klinikers Karl von Pfeufer (1806-1869), einer
anerkannten Autorität auf dem Gebiet der Cholera-Forschung. Vogel, nachmali-
ger Leiter der Medizinischen Klinik zu Dorpat (1866-1886), steht 1854 kurz vor
der Habilitation und nutzt die Göttinger Naturforscherversammlung zu seiner
73 Ibid., S.49.
74 Lc.
75 Tagblatt 1850, S.39.
76 Lc.
Meinungen kontrovers bleiben, schreitet man abschließend zu einer Abstimmung
über die wissenschaftlich richtigen Antworten und gelangt auf diese Weise zu
folgenden Resultaten:
ad 1.: Die Cholera ist eine lokale Krankheit, die ersten Erscheinungen spre-
chen für ein Befallenwerden eines Teils des Nervensystems,
ad 2.: Die Cholera ist eine Krankheit des Blutes, jedoch ist die Erkrankung
des Blutes bedingt durch die vom Nervensystem ausgehenden phy-
siologischen Störungen,
ad 3.: Die Cholera geht von einem Teil des Nervensystems aus mit fast
sofortiger Reflexwirkung auf das Blutsystem.73
Damit hat die Medizinische Sektion durch demokratische Entscheidung die
tatsächliche pathologische Kausalkette der Cholera auf den Kopf gestellt, und
dies trotz der Warnung Grafs, der daran erinnert, daß „seit Jahren die Wissen-
schaft den Weg der Hypothesen verlassen, und den der Thatsachen eingeschla-
gen habe, den sollte man nicht verlassen. Thatsache ist nur veränderter Chemis-
mus des Blutes, dieser allein wesentlich und immer constant. Ob vom Blut
ausgehend, oder veränderter Innervation, wird immer im Bereich des Unerklärten
bleiben"74. Doch die Worte des Medizinalrates zeigen keine Wirkung, die „Neu-
ralpathologen" erringen einen Abstimmungssieg, der allerdings mehr aus dem
persönlichen Prestige einiger Wissenschaftler (z. B. Siebert) als aus den besse-
ren Argumenten resultiert.
Im folgenden Jahr, auf der Greifswalder Versammlung 1850, meldet sich der
Wiener Cholera-Experte Rudolph von Vivenot zu Wort. Dieser hat bereits bei der
Epidemie von 1831 ein Werk mit dem Titel „Andeutungen über die vorgeblichen
und wirklichen Schutzmittel gegen die Cholera und die Behandlung der Erkrank-
ten; zusammengestellt nach den von seinem Vater und von ihm in Wien gemach-
ten Erfahrungen" herausgegeben. In Greifswald nun widerlegt er die Beobach-
tung amerikanischer Ärzte, die Cholera komme in schwefelhaltigen Gegenden
nicht vor, durch die schlichte Tatsache, daß „in Baden bei Wien diese Seuche
furchtbar gehaust habe"75. Dennoch bestätigt von Vivenot die Wirksamkeit eines
aus Schwefel und Kohle hergestellten Heilmittels, wie es von amerikanischen
Kollegen empfohlen werde, während Dr. Oswald Pohl, Assistenzarzt der Chir-
urgischen Klinik Greifswald, einwirft, daß von Berliner Ärzten dieses Mittel wegen
seiner Nutzlosigkeit bereits aufgegeben worden sei76.
Auf der Göttinger Versammlung 1854 treffen wir auf den 25jährigen Dr. Alfred
Vogel, Schüler des Münchener Klinikers Karl von Pfeufer (1806-1869), einer
anerkannten Autorität auf dem Gebiet der Cholera-Forschung. Vogel, nachmali-
ger Leiter der Medizinischen Klinik zu Dorpat (1866-1886), steht 1854 kurz vor
der Habilitation und nutzt die Göttinger Naturforscherversammlung zu seiner
73 Ibid., S.49.
74 Lc.
75 Tagblatt 1850, S.39.
76 Lc.