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Baumeister: das Architektur-Magazin — 2.1904

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Heft 8 (1904, Mai)
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Kühnlein, Max: Der Altar in seiner historischen und architektonischen Entwickelung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.49990#0097

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DER BAUMEISTER * 1904, MAI.

89

Der Altar in seiner historischen und architektonischen Entwickelung.
Von Max Kiihnlein, Architekt.
(Schluss.)

Oft war dieselbe durch Pilasterstellungen in drei Teile
gesondert, so dass jeder Teil eine Gruppe von Heiligen
bildete, gewissermassen den Sockel zur ersteren. Ge-
wöhnlich wurde der Unterbau mit einem kräftig profilierten
Gesimse bekrönt, das nunmehr meist in weit ausladender Form den
Oberteil aufnahm. Der Oberteil erhielt zunächst zwei, später
vier, noch später mehr als vier aufklappbare Schreine mit ihren
Skulpturen und Malereien. An gewöhnlichen Sonntagen wurden
die Klappen der Schreine geöffnet, an hohen Festtagen konnten
auch die Schreine herumgedreht werden, wodurch sich der
Altar in seiner ganzen Schönheit der Gemeinde zeigte. Weil
nun die Klappen beim Herumdrehen der Schreine weit über
den Altartisch nach rechts und links ausschwenkten, so erhielten
diese Altäre die Bezeichnung Flügelaltäre. Über dem schrein-
haltenden Wandteil erhob sich meist ein in mehreren Gruppen
gesonderter hochanstrebender Aufbau. Das Innere der Schreine

Evangelisten Johannes, der Maria mit dem Kinde, der heiligen
Anna und der heiligen Familie erwähnt. Der Baldachin, grösser
als die mensa, tritt in kühner Viertelswölbung aus der Rückwand
hervor.
So hat denn der Altar verschiedene Wandlungen von den
einfachsten Formen bis zur reichsten Entwickelung erfahren.
Architektur, Skulptur und Malerei reichten sich die Hand und
liessen Denkmäler entstehen, die unser Auge bewundernd be-
trachtet. Während in Italien die herrlichsten Altäre mit marmornen
oder gemalten Madonnen- und Heiligenbildnissen durch Donatello
und andere entstanden, machte sich ihr Einfluss auch in Deutschland
bemerkbar. Albrecht Dürer zur Zeit der Spätgotik und Hans
Holbein zur Zeit der Früh-Renaissance schufen unvergleichliche
Altarbildnisse. Wie aber die Renaissance in ihrer höchsten
Blüte bestrebt war, die edlen Formen klassischer Baukunst
wieder zur Geltung zu bringen, so artete doch schliesslich vielfach

war mit Schnitz-
werk aus Eichen-
holz, das man in
seiner Naturfarbe
beliess, oderauch
hier und da ver-
goldete, versehen.
Die Aussenseiten
der Klappen und
Deckflügel hatten
Malerei. Einer der
grössten Flügel-
altäre befindet
sich in der Marien-
kirche zu Danzig.
Ferner seien ge-
nannt: der früh-
gotische zwei-
flüglige Hochaltar
der Nikolaikirche
zu Stralsund. Auf-
geklappt präsen-
tiert er sich in be-
sonderer Schön-
heit. Die ganze
Altarhauptwand
enthält die Dar-


die SuchtzuÜber-
treibungen aus,
die am Ende
des siebzehnten
Jahrhunderts zu
einer Stilrichtung,
die man mit
„barock“ be-
zeichnete, führte.
Unter König Lud-
wig XIV. entstan-
den Altäre mit
phantasie-
voller Ornamen-
tik, die strengeren
architektonischen
Formen früherer
Zeit wurden
verlassen, und
unter König Lud-
wig XV. blühte
eine Stilrichtung,
die man Rokoko
nannte und die
zum Teil in
schwülstigen
Formen alles

Stellung Christus
am Kreuze, von

Fig. 15. Haus des Herrn Stanford White. Architekten Mc. Kim, Mead & White.

Vorhergewesene
übertraf. Aber

den Schächern und der Menge des Volks umgeben. Die Innenseiten
der Klappen sind je in drei übereinander befindliche Gruppen ein-
geteilt, sie enthalten die Hauptmomente aus der Leidensgeschichte
des Erlösers. Ein bemerkenswerter Hochaltar aus dem Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts befindet sich in der Marienkirche
zu Lübeck. Die Rückwand ist in drei vertikal anstrebende
Felder geteilt, und die Flügel haben je zwei Gruppen, die durch
horizontale Leisten getrennt sind. Dieser Altar ist mit reichem
Schnitzwerk ausgestattet, sein oberer Abschluss hat die rund-
lich gebogene Form, wie sie in jener Epoche häufig zur An-
wendung kam. Noch ein bemerkenswerter Flügelaltar aus dem
Anfang des Sechzehntenjahrhunderts, der Altar in der Katharinen-
kirche zu Lübeck, sei hier genannt. Er hat aufgeklappt vier
Gruppen, welche mit Laubwerk-Bögen in sogenannter Esels-
rückenform bekrönt sind. Aussen befinden sich herrliche Malereien,
die in der Darstellung des Ganges der Jünger nach Emmaus
ihren Ausdruck gefunden haben. Der Mittelschrein enthält die
Darstellung der Kreuzigung Christi, daneben befinden sich der
heilige Georg und Johannes der Täufer. Die zwölf Apostel
befinden sich in zwei Reihen übereinander in den aufklapp-
baren Flügeln. Als letztes Beispiel jener spätgotischen, in
manchen Ornamenten die kommende Renaissance ankündigenden
Werke bemerkenswerter Altäre sei noch der Baldachinaltar der
Johanniskirche zu Lüneburg, mit seinen Standbildern des

man darf nicht annehmen, dass um jene Zeit der Geschmack
an Gutem und Schönem gänzlich gelitten hätte, denn man
findet bei uns in Deutschland in vielen Rokokokirchen, wie
in Würzburg, Augsburg, München Altäre, die dem Inneren
des Gotteshauses gerade durch ihre lebhaften Formen einen
festlichen Charakter verleihen. Wie aber nach allem Hoch-
gespannten endlich eine Reaktion eintritt, so folgte auch auf
die Zeit des Rokoko, die allzu verschwenderische Mittel
zur Erhöhung des Effekts gebraucht hatte, eine Zeit der
Ernüchterung — man ging wieder auf die einfachen und edlen
Formen klassischer Kunst zurück. Die Epoche Ludwigs XVI.
war glücklicherweise nur von kurzer Dauer, und sie hatte nur
geringen Einfluss in Deutschland. Auch die Zeit unter Napoleon 1.
brachte trotz ihrer Umwälzungen keinerlei Neuerung nach Deutsch-
land. Durch diese günstigen Umstände wurde in unserer Heimat
mehr und mehr der Boden zubereitet, der, wie oben erwähnt,
die wahre Kunst wieder auf ihr Piedestal erhob. Mit dem Anfang,
der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts begann man damit,
und unsere heutige Zeit arbeitet nunmehr mit vielem Geschick
im Geiste historischer Überlieferungen. Wir freuen uns dessen,
und unsere nachfolgenden Geschlechter werden mit Befriedigung
auch auf die neuzeitlichen Werke blicken, die uns glauben
lassen, in einer bedeutsamen Epoche in der Geschichte der
Baukunst zu stehen.
 
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