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Weyden, Rogier van; Beenken, Hermann
Rogier van der Weyden — München: Bruckmann, 1951

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https://doi.org/10.11588/diglit.52463#0084
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rundend wie die wenigeren Finger des älteren Werkes. Der Geschmack an den fast wie ein bloßes Flä-
chenornament wirkenden Fingern des Estebildnisses (Abb. 113) kündigt sich hier bereits an.
Dieses Frauenantlitz ist individuell sehr durchformt und in seinem Ausdruck gegenüber dem Berliner
Porträt keineswegs, wie gemeint worden ist, konventioneller. Wie eigentümlich blicken über der kurzen,
breitrückigen Nase allein diese Augen! Die schmalen Lider sind, als ob der Blick nach unten gehe — aber
er tut es gar nicht —, ein wenig gesenkt. Die langen Augenöffnungen sind unter ihren geschweiften
Lidern bis in die Winkel hinein schmal geschlitzt. Die Nase, die man ebenfalls lang und schmal erwarten
möchte, ist gedrungen und hat wenig Relief. Die geschweifte Form der Augen nimmt jedoch der Mund
wieder auf: die Oberlippe kurz und bestimmt, die Unterlippe voll schwellend und sinnlich. Man spürt:
eine Frau mit Begierden, undurchsichtig, vegetativ, ohne Herz, eine Dame des Hofes, ganz ohne jene
innere Offenheit, die die junge Bürgersfrau des Berliner Bildnisses so liebenswert macht. Eine der inter-
essantesten Frauenphysiognomien des Jahrhunderts 1
Die Londoner National Gallery besitzt ein ähnliches Bildnis (Abb. 123), ähnlich jedoch nur in der Hal-
tung und im Kostüm. Es ist ein mageres, dürftiges Werk — eine Werkstattarbeit, wie jetzt auch die Lon-
doner Galerieleitung annimmt55 —, das niemals, wie es mehrfach geschehen ist, dem großartigen Wa-
shingtoner hätte an die Seite gestellt werden dürfen. Es vertritt das Durchschnittsniveau, von welchem
die Meisterschöpfung mit ihrer ganz anderen Kraft der Menschendurchdringung sich abhebt.
Dürftiger, magerer als die Frau des Washingtoner Porträts ist auch die Gattin des Kanzlers Rolin an
der Außenseite des Beauner Altares (Abb. 63). Dort aber sind die engen und kleinen Formen derart, daß sie
einen Menschen, eben diese altgewordene und in ihrem Seelengewebe etwas engmaschige Frau, charak-
terisieren. Ob diese Stifterbilder des großen Altares eigenhändig von Rogier gemalt sind, darf man
bezweifeln. Sie sind trocken und ohne Größe; aber in der Menschenauffassung, wenn auch nicht geistvoll,
so doch echt und ursprünglich.
Von viel höherem Rang wieder ist das Bildnis einer älteren, offenbar fürstlichen Frau in der Rocke-
feller-Sammlung in NewYork (Abb. 93), früher in Rothschildschem Besitz in Paris. Es ist wohl das in
seiner Datierung umstrittenste Werk Rogiers. Für den, der das, wie es scheint, malerisch sehr bedeutende
Original nicht kennt, ist ein stilkritisches Urteil sehr schwierig. Die schimmernde Malerei der Brokat-
stoffe scheint für eine frühe Entstehung zu sprechen. Dem widerspricht jedoch der räumliche Charakter
des Bildaufbaus, dem widerspricht auch und vor allem die auch ihrerseits dem neuen Bedürfnis nach Ver-
räumlichung entgegenkommende Tracht. Die Mode der Hörnerhaube hatte in den 1420er und 1430er
Jahren das Gesicht noch mit enganliegenden Tüchern umhüllt, wobei die schräg am Kopfe sitzenden
»Hörner« allmählich größer zu werden begannen. Das Berliner Frauenporträt (Titelbild) mit seinen
senkrecht herabfallenden seitlichen Leinentüchern zeigte die Tracht in ihrer gleichsam klassischen Form.
Das New Yorker Bildnis zeigt nun eine extreme Weiterbildung der Flaube zu ausschweifender Höhe.
Die Schleiertücher, die schon in dem Frauenbildnis des Beauner Altars schräg zu fallen begannen, schaffen
dem Antlitz nicht mehr wie in Rogiers Berliner Frauenporträt oder in Jan van Eycks Brügger Bildnis
der eigenen Gattin eine flächige Folie, sondern grenzen ringsherum eine weite, nach unten zu sich
verbreiternde Raumzone ab. An Stelle der weißen Leinenwäsche sind durchsichtige Spitzenschleier
getreten, wie sie zumal seit dem Ende der 1450 er Jahre — Tournaiser Teppiche bezeugen dies —
häufiger werden. Auch die Partie des Schoßes ist jetzt verräumlicht, indem die aus weitfälteligen
Brokatärmeln hervortauchenden Finger — und es sind wieder die gehäuften, unplastischen Finger der
Spätzeit — schräg links in spürbarem Abstand vor dem engschnürenden Gürtel ineinandergelegt sind.
Dabei sind die Umrisse der Gestalt hart, die Einzelformen im Antlitz wie auch in der Gewandung mager

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