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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 3.1868

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Heft 10
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https://doi.org/10.11588/diglit.44083#0279
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Das Kreuz im Walde.
Novelle von August Schrader.
(Fortsetzung.)
10.
Der alte Graf.
Es war mitten in der Nacht. Die Glocken
der Stadt hatten ein Uhr angezeigt. Tiefe Stille
herrschte in den Gärten und in den Landhäusern,
die den Gürtel der weiten Residenz bildeten. Die
Promenaden waren wie ausgestorbcn, nur selten
hörte man die Schritte eines spät Heimkehren-
den. Hier und dort leuchtete eine Gaslatcrne,
bei deren Schein das Grün der Blätter an den
nächsten Bäumen deutlich hervortrat. Den Gär-
ten entströmte ein lieblicher Blnmendust, den ein
kaum merkliches
Lüftchen in die
stillen Alleen trug.
Um diese Zeit stand
ein Mann an dem
Gartengitter der
Wittwe Lobau; er
suchte und fand den
Glockenzug, den er
in Bewegung setzte.
Fünf Minuten spä¬
ter öffnete Drude,
die Magd, die Thür.
— Ist Mada¬
me schon zur Ruhe
gegangen?
— Nein, Herr
Vetter!
Man hatte der
einfältigen Magd
befohlen, den Gast
so zu nennen. Die¬
ser war, wie der
Leser wohl schon cr-
räth, kein Anderer
als der Graf Ju-

lian von Ravenstein. Er eilte, während Drude
die Thür schloß, dem Hause zu. Zwei Fenster
des ersten Stocks waren noch matt beleuchtet.
Das Licht schimmerte durch herabgelassene grüne
Rouleaux. Julian betrat die Hausflur und stieg
die Treppe hinan, auf deren oberster Stufe die
Wittwe mit einer brennenden Kerze stand. Au-
relie trug schon das Nachtkostüm. Die breiten
gelben Bänder der weißen Flügelhaube, die sie
mit besonderer Sorgfalt pflegte, umflatterten
ihre vollen Wangen.
— Wie steht es, Vetter?
— Ich glaube . . . gut!
Beide betraten das Zimmer.
— Sie glauben? fragte gespannt die Wittwe.
— Diesen Morgen früh haben wir den Vater
begraben.

Aurelie setzte die Kerze auf den Tisch.
— So ist der Alte seinen Leiden endlich
erlegen!
Julian warf sich auf das Sopha.
— Es war die höchste Zeit, sowohl für ihn
als für mich!
— Ist ein Testament vorgefunden?
Der Graf seufzte tief und schwer.
— Leider nein!
— Mein Gott!
— Der Gerichtsamtmann versichert, daß der
Kranke nie testirt hat.
— Was geschieht nun?
— Ich bin betrogen, schmählich betrogen!
rief Julian schmerzlich. Es war ein Testament
vorhanden, aber man hat es unterschlagen. Der
Gerichtsamtmann handelt zu Gunsten Otto's ...
Wäre ich, statt Ga-
brielen nachzulau-
fen, am Kranken-
bette des Vaters ge-
blieben, so stünden
die Dinge anders.
Die Witlwe be-
trachtete staunend
den Grafen, der völ-
lig abgespannt auf
. dem Sopha lag.
Auf ihre Fragen
antwortete er kurz:
— Erlassen Sie
mir die Mitthei-
lung der Einzeln-
hciten; der Kern der
Sache ist, daß ein
Testament, wie ich
es gewünscht, fehlt.
Auch der Vater hat
mich betrogen. Otto
erbt als Erstgebo-
rener und ich wer-
de mit einer Rente
abgefnndcn.

Vas k. k. Arsenal in Wien.
 
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