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Ner Verschwundene.
Novelle
von
A Steu del.
(Fortsetzung.)
„Ist dieser Geistliche noch im Dorfe unten?
fragte der Kommerzienrats) auf-
merksam.
„Ja wohl; er wird uns auch
wohl nimmer verlassen, so lange
er das Leben behält, denn er ist
sehr beliebt, und da er nimmer
heirathet, so braucht er nicht
auf ein größeres Einkommen zu
sehen."
„Nun da war Herr Braun
doch wohl bei ihm eingekehrt?"
bemerkte Jener, um der alten
Frau geschickt deu abgebrochenen
Faden wieder in die Hände zu
spielen.
„Nein, lieber Herr; der
Bursche, welchen der Forstwart
hinunter geschickt hatte, kam mit
der Nachricht, der Herr Pfarrer
sei vor Tisch schon in die Stadt
gegangen, und komme erst am
andern Morgen zurück; von Herrn
Braun aber habe man nichts ge-
sehen. — Jetzt ließ sich die ge-
ängstigte Frau nimmer halten;
sie wollte selbst fort, ihren Mann
zu suchen; kaum daß sie sich noch
Zeit nahm, den Mantel umzu-
thun. Der Forstwart und die Kam-
merjungfer begleiteten sie, denn
die Dämmerung war bereits an-
gebrochen. O ich höre die arme
Dame noch, wie sie in herzzer-
reißenden Jammcrlauten in den
Wald hineinrief: „Richard, Ri-
chard!"
„Richard, sagen Sie? Hieß der
junge Mann wirklich Richard?"
fiel der Kommerzienrats) der Alten
mit Heftigkeit in's Wort.
„Ja, so nannte sie ihn, ob-
schon es in ihrer Sprache etwas

anders lautete. Aber kein Richard gab Antwort,
und nach einer vollen Stunde brachte man die
Aermste halb ohnmächtig in's Haus zurück, wo sie
vollends ganz zusammenbrach. Jetzt ging der Forst-
wart in's Dors hinunter und bot etliche Männer
auf, die den Wald nach allen Richtungen durch-
streifen mußten, zugleich schickte man einen Boten

in die Stadt nach dem Doktor, da der Zustand
der armen Dame uns große Vesorgniß machte. Die
Schwester des Herrn Pfarrers, die sogleich her-
auf kam und die Leidende nicht mehr verließ, war
unser einziger Trost in dieser schweren Nacht,
denn die arme Frau lag in den heftigsten Krämpfen
und verlangte immer zu ihrem Mann, so daß
wir sie kaum zu halten vermoch-
ten, bis sie gegen Morgen in
einen tiefen Schlaf fiel. — Um
dieselbe Zeit," fuhr die Alte mit
einem schweren Seufzer in ihrer
Erzählung fort, „kamen einige
der ausgeschickten Männer mit
der Leiche des jungen Herrn.
Sie hatten schon alle Hoffnung
aufgegeben gehabt, ihn zu finden,
als einer von ihnen an die kleine
Schlucht kam — man nennt sie
in der Gegend die „Wolfsschlncht"
— sie ist steil aber nicht- sehr
tief, ein Kind kann bei guter
Jahreszeit ohne Gefahr hinunter-
klettern; damals aber lag fuß-
hoher Schnee, und es war ge-
froren, so war's schon etwas
mühsamer, an Ort und Stelle
zu kommen. Da der L!ond Helle
schien, sah der Nachforschende
etwas Dunkles auf den: weißen
Boden liegen, rutschte niit Hilfe
seines Steckens hinunter und da
lag der arme Herr blutig —
todt! Er mußte von dem Schnee
geblendet dem Rande zu nahe
gekommen, vielleicht auch in einem
Anfall von Schwindel, über wel-
chen er in letzter Zeit sich öfters
beklagte, hinabgetaumelt sein,
was so viel nicht zu bedeuten
gehabt hätte, wäre er nicht mit
der Stirne auf einen Steinblock
gefallen, der ihm die Hirnschale
zerschmetterte. — Der Mann rief
nun einigen seiner Kameraden,
die in der Nähe waren, zu, und
so brachten sie die Leiche mit
vieler Mühe herauf und in's
Hans.

Der Prophet Tantel,
nach tzcn Fresken Michel Angclo's in der Sixtinischen. Kapelle. (S. 29.H)


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