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Der Verschwundene.
Novelle
von
L- Stendel-
(Forijetzung.)
Noch saß Florence, an Blässe und Regungs-
losigkeit einer Statue ähnlich da, als der Doktor,
voll Eoelin gefolgt, in's Gemach trat. Wie sie
ihn jedoch gewahr ward, streckte sie ihm beide
Hände entgegen und rief in einem
Tone, der ihm durch die Seele schnitt:
„Max, es ist so, wie die innere
Stimme es mir znslüsterte: Er war
hier — er ist — jener Fremde!"
Und überwältigt von ihren Ge-
fühlen, ließ sie das schöne bleiche
Haupt an Maxens Brust sinken.
Der junge Mann hielt die
schwankende Gestalt sanft umfast
und führte sie zum Sopha, während
er Eoelin zurief, sie möge Thee be-
sorgen.
„Legen Sie sich hier nieder, Flo-
rence, und sprechen Sie jetzt nicht.
Sie werden sich bald erholt haben,
dann sagen Sie mir Alles. — Kön-
nen Sie nicht ein wenig ruhen?"
Florence schüttelte verneinend
das Haupt.
„Sie hätten nach den gestrigen
Anstrengungen nicht so früh aufstehen
sollen," fuhr Max, um sie von den
sie beschäftigenden Gedanken etwas
abzulenkeu, nach einer Pause fort.
„Wenn auch kein kränkelndes, so
sind Sie doch ein zartes Wesen, und
ich werde Sie, obschon Sie sich da-^
gegen gewehrt, unter ärztliche Auf-
sicht nehmen müssen. — Ich selbst
bin eine „harte Natur", wie Sie
wissen; mit Sonnenaufgang war
ich drüben beim Bänkchen und hab'
ihm Gutenmorgen gesagt. Was ich
dort erbeutet? soll ich's Ihnen
zeigen?"
Ein mattes Lächeln flog über!
die lieblichen Züge, als Florencck

ein „Ja" nickte; im nächsten Augenblick fiel ein
Regen von duftenden Waldblumen auf sie nieder.
„O wie schön!" sagte sie, einige derselben aus-
nehmend, „und wie freundlich von Ihnen, Max!"
„Und da haben wir auch schon Evelin mit
dem Thee!"
„Nur ich bin's," entgegnete der unter der
Thüre erscheinende Kommerzienrath. — „Ja, was
treiben Sie denn, theures Kind?" fuhr er, Florence
mit einem sanften Händedruck begrüßend, theil-'
nehmend fort. „Ich schlief nicht so fest, wie Du

gemeint, Doktor, und habe Dein Zwiegespräch mit
Miß Evelina Wort sür Wort vernommen. Und
nun sagen Sie nur, was ist geschehen, das Ihre
Wänglein so bleich gemacht, mein armes Kind?"
Florence wies nach der kleinen Kommode, zog
ein Papier aus dem Busen und reichte es dem
alten Freunde hin.
„Dort — fand ich's; lesen Sie und —" Ein
Thränenstrom entstürzte ihren Angen, — sie barg
das Gesicht in die Hände.
Der Kommerzienrath ging an's Fenster und
entfaltete das mit französischer Schrift
beschriebene Blatt. Der Inhalt lau-
tete in der Uebersetzung also:
„Verlassen Sie Angesichts dieses
Lion-Cottage und begeben Sie sich nach
N., woselbst der getroffenen Ueber-
einkunft gemäß Sie mich erwarten.
Ein unvorhergesehener, unser Vor-
haben jedoch begünstigender Zwischen-
fall erfordert meine alsbaldige Ab-
reise von London und es würde
Aufmerksamkeit erregt haben, hätte
ich mich von Hause entfernt, um
mündliche Rücksprache mit Ihnen zu
nehmen.
Von N. eilen wir sogleich nach
Frankreich, und dann — o meine
heißgeliebte, einzige Konstanze! wo
immer wir ein Asyl suchen und finden
werden — wir werden glücklich sein!
Noch steht mir Schweres bevor:
der Abschied von Denen, die mir
das Theuerste gewesen, ehe ich Sie
kannte. Möge Ihre Liebe, Ihr ge-
liebtes süßes Bild mich in dieser
Stunde schützend umschweben!
Auf baldiges Wiedersehen denn,
Du Einzige, Geliebteste! Bete um
Kraft und Stärke für Deinen
R. M."
„Florence," sagte der alte Herr,
als er wieder vor der sanft Weinen-
den stand, „ich weiß, Sie sind ein
starkes Mädchen, und so mögen Sie
denn erfahren, daß auch ich, und
zwar gestern Abend schon, kaum
mehr zweifelte: Richard und jener
Fremde, der sich „Braun" nannte,

General Bogel von Falkcnstcin. (s. 307.)


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