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Der Verschwundene.
Novelle
von
L Stendel.
(Schluß.)
Der Geistliche fuhr fort:
„Als ich, nachdem man den
Verunglückten schon vor Tag her-
eingebracht, in Konstanze's Zim-
mer trat, fand ich sie bleich wie
eine Lilie, aber gefaßt, beinahe
ruhig in ihrem Bette liegend. Sie
streckte mir die Hand entgegen
und fragte kaum hörbar: ob er
gefunden sei. Ich konnte vor
Bewegung kaum ein „Ja" her-
vorbringen; sie aber weinte nun
stille vor sich hin und fragte
nichts mehr. Als der Doktor kam,
drangen wir vereint in sie, sich
in mein Haus bringen zu lassen
und ich schickte meine Schwester
dahin voraus, um die nöthigen
Vorbereitungen zu treffen. Die
arme Dulderin ergab sich in alles,
ließ sich ankleiden, und wir führ-
ten oder trugen sie vielmehr die
Stiege hinab. Vor der Thüre an-
gelangt, hinter welcher der Todte
lag, entwand sie sich plötzlich mit
fast übernatürlicher Kraft unfern
Armen, faßte den Drücker, brach
aber im Begriff zu öffnen ohn-
mächtig zusammen.
„Demungeachtet wurde sie in
die bercitstehende Kutsche gebracht,
wo sie unter den Bemühungen
des Arztes wieder zum Bewußt-
sein kam, und nun stille, wie
ein müdes Kind, in den Armen
ihrer treuen Dienerin lag, bis
wir mein Haus erreicht halten.
„Und stille, geduldig wie ein
Engel ertrug sie die schweren
Leiden, die ihrem Ende voraus-
gingen," nahm jetzt des Pfar-
rers Schwester das Wort. „O


mein Herr! man mußte dieses arme, süße Ge-
schöpf auf dem Schmerzenslager lieben, hätte
man es zuvor auch nicht geliebt! Als das Kind
da war und man es ihr in die Arme legte,
da richtete sie dis schönen, halbverklärten Augen

Amadeus, König tion Lpanicn. (S. 319.)

mit einem unbeschreiblichen Blicke nach oben und
flüsterte: „Richard — dein Kind!" — dann meine
und meines Bruders Hände erfassend, bat sie mit
fast gebrochener Stimme, wir sollten ihm den
Namen seines Vaters geben und ihm Vater und
Mutter sein. — Es waren ihre
letzten Worte gewesen, obschon
sie noch einige Tage lebte. In
sanftem Schlummer ging sie hin-
über zu ihrem Gott und — zu
ihrem Richard!"
„Und weiß der arme Knabe,
wem er das Leben verdankt?
Kennt er das tragische Ende sei-
nes Vaters?" wandte der Kom-
merzienrath sich tief ergriffen zu
dem Geistlichen.
„Das Letztere nicht, und ich
habe Sorge getragen, daß ihm
auch von Außen her nichts davon
zu Ohren kam. Er weiß nur,
daß seine Eltern liebe Freunde
von uns waren und hier starben,
nachdem sie ihn uns anvertraut.
Von der früheren Geschichte des
unglücklichen Paares erfuhr er
natürlich eben so wenig. Sie
werden mir beistimmen, Herr
Kommerzienrath, daß wir bei
den nun unerläßlich gewordenen
weiteren Aufklärungen sehr behut-
sam zu Werk gehen müssen, um
die junge Seele nicht mit ihr
ganz fremden Gedanken und Sor-
gen zu belasten. Sie bleiben doch
noch einige Tage hier?"
„Ich reise heute noch bis S...
Die Schwester des Verunglückten,
Miß Milten, ist tief erschüttert
von dem, was sie bereits erfah-
ren, und ich muß sie von hier
entfernen, wo alles sie an die
entsetzliche Katastrophe erinnert.
Ich wollte, Sie könnten uns be-
gleiten, Herr Pfarrer, um den
kleinen Richard auf die seiner
wartende Ueberraschung vorzu-
bereiten."
Bruder und Schwester wech-

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