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I

Pauline Binrdot-Garcia. Nach einer Photographie gezeichnet von C- Kolb. HS. 538.)

An beiden Seiten der steinernen, wenige Stufen
hohen Freitreppe fehlt sogar der Schmuck eines kleinen
Gartens nicht, wenn auch zur Zeit — es ist anfangs
Oktober — die Blumen bereits ein herbstlich nbge-
blühtes Ansehen angenommen haben.
Es ist noch früh am Morgen. Aus dem niedri-
gen Schornsteine steigt leichter Rauch auf, röthlich
angehaucht von der Sonne, die vor einer Stunde etwa
aufgegangen sein mag. Jetzt machen sich innen schwere
Schritte vernehmbar und nähern sich der Thüre. Ein
Schlüssel wird nmgcdreht, um dieselbe zu offnen; aber
sie gibt nicht nach, wenigstens nur widerstrebend. Ein
schwerer Gegenstand, unmittelbar gegen die Thüre
gelehnt, verhindert ihr Aufgehen.
Man drückt voir innen mit Anstrengung nach und
durch die endlich erzwungene Spalte schiebt sich vor-

sichtig und neugierig ein altes Negergcsicht, ein Kopf
mit grauen wolligen Haaren, von einer alten, ebenso
wie die harten Züge verschossenen Pelzmütze bedeckt.
Die großen schwarzen Augen des alten Haus-
dieners blicken verwundert und starr eine Weite auf
den von Weiden geflochtenen umfangreichen Korb, der
dem Oeffnen der Thüre widerstrebt. Noch einmal
lehnt der Alte sich von innen gegen die Thüre und
schiebt sich endlich durch die Oefsnung mit aller An-
strengung, die ihm Neugierde und Unwillen über diesen
unberechtigten Widerstand gegen seine dienstlichen Ob-
liegenheiten eingebeu. Er steht nnn auf der Treppe.
Die Hände in den Taschen einer kurzen, grauwollenen
Matrosenjacke, die gerade bis auf die hohen derben,
bis über's Knie gehenden Wasserstiefel hinabreicht, blickt
er verwundert und mißtrauisch auf den neuen und mit
feiner weißer Leinwand lose bedeckten
Korb vor sich und besieht ihn an
einem Ende von rechts rind links. End-
lich versucht er ihn aufzuhebcn. Er-
schrocken und jählings läßt er ihn wieder
fallen, als aus dein Innern ein leiser
Schrei und dann ein gedämpftes Weinen
ertönt. Der Alte dreht sich rasch nm
und verschwindet im Hanse. Man
hört innen gehen, Thüren öffnen und
laut reden. Dann erscheint er wieder
in Begleitung eines ältlichen Herren,
im feinen weiten Schlafrocke, mit einem
dunkeln Käppchen ans den Weißen Haaren,
hinter ihm eine nicht viel jüngere
Dame, im einfachen, nicht unzierlichen
Morgenkleide.
„Sehen Sie, Massa, wahrhaftig,
Miß — sehen Sie — hören Sie — es
schreit — es ist was Lebendiges darin
— ich kalkulir', cs ist was sehr Leben-
diges!" ruft der Neger.
„Ich höre nichts, Jim, aber es
ist wunderlich," sagt der alte Herr-
leise und ruhig.
Im Korbe ist's still geworden. Die
Dame bückt sich und faßt nach der
Linnendecke. Da beginnt es innen
wieder mit Heller Stimme zu schreien.
Der Neger stößt ihre Hände heftig
zurück.
„Jessus! Miß — es beißen thun —
Jim sein Lebtag kein vernünftiges Thier
so schreien hören — kalkulir! —"
„Ein Thier nicht, Jim," sagt der
alte Herr ruhig, „aber es ist ein Kind."
„Ein Baby — wahrhaftig Massa
— ein Baby sein — kalkulir, kein
vernünftiges Thier schreit wie Baby —
was thnn mit Baby'? —"
„Zunächst tragen wir es in die Stube
— Jim, hilf mir, faß an, nicht so heftig
I 68

Oer Linlleoler voll lrolMen.
Novelle
von
W. Passauer.
1.
Von dem Nordstraude des Samlandes aus streckt
sich in nordöstlicher Richtung eine dreizehn Meilen
lange, nicht überall eine Viertelmeile breite Landzunge
durch die Ostsee, um sich an der nordöstlichsten Stadt
des deutschen Reiches, Memel, wieder dem Fcstlande
zu nähern und mit demselben au dieser Stelle die enge
Einfahrt in das weite Wasserbecken des kurischen Haffes
zu bilden. Diese Landzunge ist die kurische Nehrung.
Siebestehtaus leicht beweglichem Düncnsande, der sich
hier zu hohen Hügeln aufthürmt, dort
die dazwischen liegenden Mulden und
Thäler ausfüllt, sich aber immer wieder-
aus eigenen Mitteln und eigener Kraft
erseht und nur in seinen Formen, aber
nicht in seinem Materiale wechselt. Nur
hie und da hat der Mensch unter dem
Schutze hoher Kiefernwaldungen mit
Erfolg versucht, sich auch diese Sand-
schollen dienstbar zu machen, eine müh-
selige, oft fruchtlose und darum ebenso
oft anfgegebene Arbeit. Der einsame
Reisende athmet freudig aus, wenn auf
dem verwehten, ungebahnten Wege im
tiefen Sande, über Kies und scharfes
Gras und niederem Kieferngestrüpp hie
und da der Rauch aus den Fischer-
hütten der wenigen Dörfer oder ein-
zelner trister Gehöfte seinen: Ange be-
gegnet.
Unweit des Kirchdorfes Rossitten, des
größten der drei Nehrungsdörser, liegt
ein kleines Gehöft. Ein düsteres Fichten-
gehölz von etlva hundert uralten Stäm-
men, der vereinsamte, arme Rest des
immer mehr verschwindenden Hochwaldes,
gab nothdnrftigen Schutz "wider die
Stürme von Norden her. Nach Osten
und Süden hin erhoben sich verhältniß-
mäßig hohe, einförmig gerundete Dünen,
die in Folge der ihnen gewidmeten,
unschwer erkennbaren menschlichen Pflege
eine geünsse Festigkeit angenoinmen hatten
und mit dem fahlen Grün eines leichten
Sandhafers bekleidet sind. Das Haupt-
gebäude des Gehöftes, ein strohgedecktes,
niederes Haus, sieht mit der Fronte
von sechs kleinen Fenstern frei auf die
See nach Westen hinaus. Dieses Haus
sowohl, als die kleinen Hintergebäude
machen den Eindruck einer gewissen
Wohlhabenheit und besorgten " Pflege
 
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