Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 11.1876

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.49712#0169
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
166

Das Buch für Alle.

Familienereignisse in Verbindung stehe, worüber auf der
Herfahrt alle Mitreisenden diskutirten. Ich beschloß im
Dorfe ein Zimmer zu miethen; denn ich mußte in
Ihrer Nähe bleiben, das fühlte ich wie den Zwang eines
Naturgesetzes. Aber — ich bin erstaunt, Sie hier, Sie
so hier zu sehen. Ein Extrazug brachte ja vor einer
halben Stunde Ihren arnien Vetter hieher —"
Laute Glockentöne und ein schrilles Pfeifen ver-
schlangen seine letzten Worte. Der Zug fuhr in die
Station ein.
„Will die Dame sich beeilen!" rief der Schaffner
und Warf die Thürflügel zurück.
„Gräfin, Sie reifen also nach der Stadt?"
,Ja —"
„O, so darf ich Ihnen das Geleite geben?"
In diesem Augenblick stürmte von der andern Seite
der Diener Rakuwin's herbei:
„Gnädigster Herr, ich habe endlich gefunden, was Sie
brauchen."
„Geh' zum — Gräfin, darf ich Sie begleiten?" fragte
er mit zitternder Stimme.
„Ich kann cs Ihnen nicht verwehren, Herr Baron —"
„Nimm die Reisetasche," rief er dem erstaunten Diener
zu und reichte Julie den Arm.
Sie bestiegen ein leeres CoupL, und fort brauste der
Zug durch die ambrosische Nacht. — — —
Schon mn folgenden Tage entführte der Bojar die
längst ersehnte Beute dem deutschen Boden. Auf den
schwellenden Kissen eines Salon - Coups's koste er mit
feiner Braut, der Gräfin Julie v. Lingk-Rhein, während
deren Mutter in einer entfernten Ecke die Aufregung der
letzten vierundzwanzig Stunden durch einen tiefen Schlum-
mer auszugleichen suchte.
Rakuwin war selig. In feinen Armen hielt er das
geliebte Weib und berauschte sich immer neu in den un-
zähligen Küssen, die er auf dessen wunderschönes Antlitz
drückte. In feinem Glücke bemerkte er nicht, daß die
Geliebte nicht mit gleicher Zärtlichkeit sich an ihn drängte,
und daß, wenn sie ihn küßte, sie ihn nie so küßte —
wie eben nur ein licbedurchglühtes Weib zu küssen ver-
mag! — —
18.
Etwa drei Wochen waren vorübergcgangen seit den
schauerlichen Ereignissen, welche wir eben berichtet haben.
Da saß eines Nachmittags Dr. Werther in seinem
Arbeitskabinet, über Briefen und Schriften brütend,
welche vor ihm lagen. Ein Diener störte ihn mit der
Meldung:
„Frau v. Bertolf ist im Vorzimmer."
Der Anwalt erhob sich schnell: „Führen Sie sie
her!"
Im nächsten Augenblicke stand die Baronin vor
ihm. Er erwiederte ziemlich förmlich ihren Gruß und
begann:
„Gnädige Frau, entschuldigen Sie, daß ich Sie in
einer wichtigen Sache zu mir gebeten —"
Die Baronin faßte den alten Mann scharf in's Auge.
Warum begrüßte er sie doch heute so kalt, mit gezwungener
Höflichkeit, er, der sonst nur den Blick, den Händedruck,
die Worte eines väterlichen Freundes für sie hatte? So
war ihre Vermuthung richtig —
„Ich glaube den Grund zu kennen," erwiederte sie
leis, während sie sich auf das Svpha niederlicß. Die
Spuren des letzten Leidens waren noch nicht aus dem
zarten Antlitz gewichen; das schwarze Trauergewand,
welches die arme junge Mutter Umhüllte, war ein un-
günstiger Rahmen für die Blässe ihres Gesichtes.
„Desto besser," fuhr der Anwalt fort; „so werden wir
schneller zum Ziel gelangen."
„Sagen Sie kurz, Doktor," rief Frau v. Bertolf,
„worauf ich ja längst vorbereitet bin! Das Gericht hat
also gegen mich entschieden —"
„Das Gericht? — Ah, Sie sprechen Wohl vom Prozeß
der Bertolf
„Und Sie haben mich nicht deshalb gerufen?"
„Nein, gnädige Frau. Die Entscheidung dürften uns
erst die nächsten Monate bringen."
„Aber was haben Sic mir dann mitzutheilen?"
„Um kurz zu sein, Frau Baronin — Sie haben in
Höhenrain den Fürsten v. Lingk kennen gelernt."
„Allerdings —"
„Sie haben ziemlich viel mit ihm verkehrt —"
„Auch das, soweit ihn sein Interesse unsere Gesell-
schaft suchen ließ. Aber was soll —"
„Sogleich! Sie kennen das Unglück, das ihn betroffen.
Seine Genesung machte bis zur Stunde die erfreulichsten
Fortschritte; es war eine seiner ersten Handlungen seit
jenem traurigen Zwischenfall, daß er — sich sehr ange-
legentlich nach Ihnen erkundigte."
„Sehr freundlich vom Fürsten! Er nahm ja auch
großen Antheil an dem unersetzlichen Verlust, den ich
erlitten."
„Mehr als das; sein Brief bekundet nicht blos jenes
Mitgefühl, welches kein Menschenherz der ihres Liebsten
beraubten Blutter vorenthalten wird; es weht durch jene
Zeilen auch ein inniges Interesse für Ihre ganze Persön-
lichkeit! Ich entnahm aus ihnen mit Sicherheit, daß er

in Höhenrain zu Ihnen sogar schon entscheidende Worte
gesprochen. Noch mehr, es ist auch die Annahme be-
rechtigt, daß Sie ihn nicht abgewiesen."
„Wenn Sie unter Abweisung ein kurz und bündig
ausgesprochenes Meinst verstehen — das habe ich aller-
dings nicht gesprochen. Immerhin —"
„Also habe ich richtig vermuthet!" fiel ihr der Doktor
erregt in's Wort. „Frau Baronin, Sie dürfen dem
Fürsten nicht näher treten!"
Frau v. Bertolf warf den Kopf zurück und maß den
Anwalt mit einem vollen Blick.
„Ich darf nicht?" sprach sie mit Festigkeit. „Das
klingt seltsam!"
„Sie dürfen nicht!" wiederholte der Doktor mit fast
flehender Stimme. „Sagen Sie doch, hatte Ihre Frau
Mutter nie ein warnendes Wort in dieser Beziehung für
Sie?"
„Meine Mama? — Doktor, es gilb Wohl wieder
ein Komplott gegen meinen freien Willen!"
Die geistige Spannkraft, welche in der jungen Frau
durch Wilgart's wohlberechnete Worte und unter dem
erregenden Einfluß einer herrlichen, vorher nie geschauten
Natur so schnell cmporgeblüht war, sie war auch dein
lähmenden Eindruck des jüngsten Verlustes und der fol-
genden schweren Krankheit nicht erlegen. Im Gegentheil,
sie hatte sich noch mehr entwickelt, als mit der wieder-
kehrenden Genesung auch die Gedanken an die Zukunft
bestimmter wurden, als die Erinnerung an jenen Abend
wieder erwachte, da Brigitta das herzlose Spiel der
Majorin niit dem Glück ihrer Tochter so rauh verrathen
hatte. Frau v. Bertolf ward sich bewußt, daß sie ganz
allein stand inmitten einer Welt, die ihre heiligsten An-
sprüche an ihren todten Gatten in den Staub zu treten
sich bereitete, die ihr das schönste Vorrecht, das Recht
der Selbstbestimmung, so lang vorenthalten hatte! Und
nun verband sich ihr einstiger Vormund, den sie bis zur
Stunde als einen Schützer geehrt, heimlich mit ihrer
Mutter, um ihren Willen wieder zu knechten und sie
auf einen Pfad zu drängen, der nur ihnen ersprießlich
schien!
Aber die Dränger hatten sich getäuscht. Da saß die
junge Frau, den Blick fest auf den Anwalt gerichtet, sie
erwartete ruhig den Angriff.
„Ich bin nur erstaunt," fuhr sie fort, als der be-
troffene Anwalt nicht sogleich antwortete, „ich bin nur
erstaunt, daß Sie gerade das Gegentheil dessen anstrcben,
was meine Mama zu erreichen hoffte. Hätte ich ihr
gefolgt, ich wäre nun Wohl die erklärte Braut des
Fürsten!"
„Wirklich?" rief der Anwalt in höchster Erregung.
„Sie ließ sich demnach Wohl von Ihnen eines Bessern
belehren," fuhr die Baronin heiter fort.
„Aber das ist ja ein entsetzlicher Frevel," rief
Dr. Werther, der ihre Worte ganz überhörte. „Nein,
nun und nimmer! Schweigen wäre hier Sünde, ich muß
Alles sagen. — Frau v. Bertolf, es bestehen Beziehungen
zwischen Ihnen und dem Fürsten —"
„Es bestehen keine!" rief die Baronin mit Be-
stimmtheit.
„Sie mißverstehen mich! Ich begreife, daß Sie ein
süßes Geheimniß auch Ihren intimsten Bekannten vor-
enthalten, so lang das entscheidende, bindende Wort nicht
von beiden Seiten gesprochen ist. Aber ich rede nicht
davon, ich spreche von viel tieferliegenden Beziehungen —"
Die Baronin schüttelte das Haupt: „Ich verstehe
Sie nicht."
„So hat Ihre Frau Mutter Sie nie damit bekannt
gemacht, daß — eine Verwandtschaft zwischen Ihnen und
dem Fürsten Edwin besteht?"
„Eine Verwandtschaft? Sie sprechen hievon das erste
Wort. Aber erklären Sie mir näher —"
„Sie begreifen also, was zwischen Ihnen und dem
Fürsten steht?"
„Noch nicht, Herr Doktor," entgegnete die junge
Frau bestimmt, die in dieser Ablenkung, nachdem ihr
Mißtrauen einmal geweckt war, schon wieder den Druck
einer behutsam angelegten Fessel zu spüren glaubte. „Die
Verwandtschaft müßte ja sehr nahe sein —"
„Sie ist es —"
„Sie ist es?" rief nun die Baronin erschreckt. „Aber
warum ward mir das bis zur Stunde vorenthälten?"
,,Weil man Ihnen ein schmerzliches Gefühl ersparen
wollte. Das Zusammentreffen in Höhenrain ward frei-
lich nicht vorausgesehen. Der Fürst hatte früher dort
nie gejagt. Er entschloß sich plötzlich hiezu, zur selben
Zeit, da auch Sie Ihre Koffer bereits gepackt, die Zimmer
bei Herrn Wild bereits bestellt hatten."
„Weil man mir ein schmerzliches Gefühl ersparen
wollte—" wiederholte die Baronin langsam, der weitern
Worte des Doktors gar nicht achtend. „Also auch hier
eine dunkle Stelle? Sprechen Sie, Doktor, sagen Sie
Alles!"
„Erlassen Sie mir das — versprechen Sie nur, des
Fürsten Werbung, wenn er sie demnächst wiederholt,
abweisen zu wollen —"
„Ich verspreche nichts! Ich will klar sehen."
„Nun denn," fuhr der Anwalt mit tiefem Athem-
holen fort, „wann feiern Sie den Tag Ihrer Geburt?"

M 7.

Ein tiefes Roth ergoß sich über die Wangen der
Baronin.
„Am ersten Oktober," entgegnete sie stockend.
„An diesem Tage feiern Sie ihn! Aber — es ist
nicht wirklich der Tag Ihrer Geburt!"
Die Baronin sprang auf. „Richt?" rief sie athem-
los; „aber wann bin ich denn geboren?"
„Um einige Monate früher."
Die Baronin trat an's Fenster, die flammende Gluth
zu verbergen, welche sich über ihr Antlitz breitete. Nach
einer langen Pause wandte sie sich zum Anwalt, der
schonend in eine andere Nische getreten war:
„Es ist hart, Herr Doktor, sein Dasein einer Stunde
zu verdanken, die ein Schimpf bleibt für die Ehre der
eigenen Eltern! Aber genug davon — kommen wir auf
den Fürsten zurück und die geheimnißvolle Verwandt-
schaft !"
Werther beugte sich über sie und flüsterte einige
Worte.
Sprachlos sank die Baronin auf das Sopha zurück.
Es war ein vernichtender Schlag —
Dr. Werther trat zu ihr, er nahm ihre Hände in die
seinen und flüsterte vor Schmerz unverständliche Worte. In
den Augen des ernsten Mannes blinkten Thronen, der es
wohl fühlte, wie er der armen Frau nun das Heiligste
genommen, und der es ihr doch hatte nehmen müssen!
Die sittliche Verwahrlosung der Majorin hatte sich ja in
Mathildens Worten furchtbar enthüllt: Hätte ich ihr ge-
folgt, ich wäre nun wohl die erklärte Braut des Fürsten!
Ihres Bruders! — —
Lang war die Baronin keines Wortes mächtig. An
der fieberhaften Gluth ihrer Augen mochte man errathen,
welch' ein Sturm ihre Seele durchtobte — ihre Glieder
jedoch waren von einer absoluten Erstarrung gefesselt.
Dr. Werther beobacktete sie mit ängstlicher Unruhe.
Wer konnte sagen, wie tief seine Worte getroffen! Er
athmete auf, als spät, sehr spät, jene eisige Kälte Wich
und ein lindernder Thränenstrom aus den entzündeten
Äugen brach. Denn dieses Herz, das nur manchmal
krampfhaft aufzuckte, als bäumte es sich gegen die unge-
heure Last, die man ihm anfgebürdct — wie leicht Hütte
es ihr erliegen können! —
Nun ruhte sie schluchzend an seiner Brust, wie sie
so oft als glückliches Kind dort in süßem Schlummer
geruht — nun wieder ein willenloses Kind! — Doch
das Glück, das damals ihren unschuldigen Scheitel um-
schwebte, das war weit fortgezogen, und nach einer so
schroffen Absage — konnte es auch nicht mehr wieder-
kehren! — —
Es war Abend geworden, als er die tief Erschütterte
am sichern Arme nach Hause geleitete. Sie hatte sich
indessen so weit gefaßt, einige Fragen an ihn zu stellen,
um Aufklärung über verschiedene dunkle Punkte zu er-
langen. Der Anwalt, durch seine intime Stellung zum
lodten Fürsten in die diskretesten Vorgänge cingeweiht,
verhehlte ihr nun nichts mehr, da sie ja das Traurigste
bereits erfahren hatte. An ihrer Wohnung angekommen,
verabschiedete er sich — er wollte in dieser Stunde um
keinen Preis der Majorin begegnen.
„Sie liebte den Fürsten!" sprach er zu sich, als er-
den Rückweg angetreten. „Ihr sonst so offenes, mittheil-
james Wesen erschien heute zum ersten Male zurückhaltend.
Sie hatte ein süßes Geheimniß zu verbergen und wehrte
sich, wie alle Liebenden, energisch gegen dessen unbarm-
herzige Enthüllung. Zwei HNligthünier sind nun zu-
gleich in ihrem Herzen gestürzt, die letzten, die ihm das
Schicksal noch gelassen! Oed ist es in ihr geworden —
und in Wüsten gedeiht kein Hoffnungsgrün! Arme
Mathilde, so früh bist Du am Ende!" —
19.
Zwei Tage bevor die eben erzählte Scene im Arbeits-
zimmer Doktor Werther's spielte, saß Bruno Wilgart
auf der herrlichen Terrasse des Hotels Gibbon in Lausanne.
Lief unter ihm glänzte der Genfersee im Hellen Sonnen-
lichte, und von seinem südlichen Ufer, so rein und klar,
als könnte man durch einen Steinwurf sie erreichen,
grüßten die blendenden Firnen der Savoyer Alpen zu
dem entzückten Beschauer herüber.
An den nördlichen Abhängen des See's herrschte
allenthalben ein lustiges Treiben. Die Zeit der Wein-
lese war angebrochen, von allen Höhen knallten lustig
die Böller und riefen ans den jenseitigen Bergen das
schlummernde Echo wach.
Seit mehreren Wochen znm ersten Male mischte sich
Bruno Wilgart wieder in das bunte Leben fröhlicher
Menschenmafsen. Der Zweck seiner Reise sowohl wie
das eigene seelische Bedürfnis; hatte ihn weitab von den-
selben geführt. Die viel betretenen Touristenstraßen hatte
er gemieden, wo ein hastendes Menschenkind dein andern
den kurzen Naturgenuß verkümmert. Er kannte sie alle,
und da er seine Gesellschaft mit sich im Innern trug,
so war ihm das Suchen nach solcher wahrlich kein Be-
dürfniß. Eine Unruhe, wie er sie noch nie empfunden,
trieb ihn hinweg aus dem Lärm, der ihn auf Bahnzügen,
Dampfern, in den Korridors und Speisesälen der Riesen-
hotels umschwirrte. Dort hinauf, wo kein Saumthicr
mehr wandelt, wo nur der heisere Schrei eines Geiers
 
Annotationen