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Hest 4. _
des Königs — seinen! offiziellen Anfstehcn aus dein
Bette — beizuwohnen, ihn zur Messe und auf die Jagd
zu begleiten, ihm voran zn leuchten, wenn er von der-
selben in das Schloß znrückkehrte und ihm beim Zu-
bettlegen behilflich zu sein und seine Pantoffeln zu rei-
chem Damit dies letztere geschehen konnte, mußten stets
zwei der Edelknaben ost die halbe Nacht wach bleiben.
Als Ludwig XVI. den Hofaufwand zu beschränken suchte,
wurden die acht Kammerpagen ganz abgeschafft; dafür
blieben aber noch die vierzig der sogenannten Marschalls-
pagen bestehen, die nun auch den eigentlichen Leib- und
Kammerdienst mit zu versehen hatten. Bei großen Fest-
lichkeiten stiegen die Pagen auf das Hintere Trittlwett
der Galakarrosse, und wenn der König oder die Prinzen
einem oder dem anderen der vornehmen Herren in der
näheren oder weiteren Umgebung von Versailles eine
Meldung zukommen oder bei dieser oder jener Gelegen-
heit ihre Glückwünsche darbringcn zu lassen wünschten,
dann ward ein Page, in Begleitung eines Stallmeisters,
als Bote abgesandt.
Eine der wundersamsten Eeremonien am Hose von
Versailles war jenes Lever des Königs, dessen wir be-
reits gedachten. Ursprünglich mochte dies sogenannte
Lever wohl in Wahrheit das Ausstcigen des Monarchen
aus dem Bette bedeutet haben, allmählig jedoch war cs
zur Toilette des Köuigs geworden; zumal unter Lud-
wig XVI., der allmorgentlich schon um sieben oder spä-
testens acht Uhr aufzustehen pflegte, sein feierliches Lever
aber erst um halb zwölf Uhr abhielt, wenn nicht die für die
Jagd getroffenen Dispositionen oder anderweitige Feier-
lichkeiten es auf eine etwas frühere Stunde vorrückten.
Zu diesem Lever nun eilte die ganze Schaar von Höf-
lingen herbei, die sich in Versailles oder auch in Paris
aufhielt. Der Eine wollte sich bemerklich machen, der
Andere suchte einen Blick des Fürsten zu erhaschen, ein
Dritter kam, um den Ministern aufzuwarten und um
diese oder jene Gunstbezeugung zu bitten oder zu er-
betteln.
All dieser Menschenschwarm wartete in der Anti-
chambre oder in der großen Gallerie auf den Moment
des Levers. Diejenigen jedoch, die ihr Dienst dahin ries
oder die den als besonderen Gnadenbeweis geltenden
Zutritt zu den kleinen Gemächern hatten, versammelten
sich in dem Oeil de Boeuf, einem großen Saale, der
unmittelbar an das Schlafzimmer des Königs stieß und
seinen Namen von dem ovalen Fenster (Ochsenauge) er-
halten hatte, das im Plafond des Raumes angebracht
war. Dieser Oeil de Boeus war der eigentliche Tempel
des Ehrgeizes, der Jntrigue, der Falschheit. Trug es
sich Wohl gelegentlich zu, daß ein nicht dazu Berechtig-
ter den Saal betrat, an dessen gigantischem Kamin es
von rothen, blauen, grünen Großkreuzordensbändern
wimmelte, so ließ der hier postirte dicke Schweizer un-
erbittlich den Ruf erschallen: „Gehen Sie hinaus, mein
Herr, in die große Gallerie hinüber!" Dieser kolossale
Schweizer vegetirte hinter einem mächtigen Ofen in
einer Ecke des Oeil de Boeuf; er aß und trank, rasirte
und putzte sich hier im Angesichte von Prinzen und
Herzogen. Abends schlug er fein kleines Bett in der
großen Gallerie auf und durfte sich dergestalt rühmen,
der Prächtigst logirte Mensch in ganz Frankreich zu
sein. Schlief er doch inmitten der kostbarsten Spiegel-
wände und konnte fein Auge schon beim Erwachen an
den Gemälden weiden, mit denen Lebrurcks Meisterpinsel
die Decke des Gemaches geschmückt hatte.
Trotz seines enormen Umsanges konnte indeß der
Oeil de Boeuf an manchem Tage die Menge der zu-
strömenden Höflinge nicht fassen, die dann so gut wie
möglich sich unterbringen mußte, bis die sehnsüchtig
erwartete Stunde schlug. Endlich war es halb zwölf
Uhr und wenige Minuten danach schritt der König aus
seinen innersten Gemächern heraus und erschien im Pa-
radeschlafzimmer. Ein Kammerdiener stellte sich nun
an die Thüre desselben und rief mit lauter Stimme:
„Die Garderobe, meine Herren!" Sofort setzte sich auf
dieser Aufforderung der hochadelige Troß der Warten-
den in Bewegung: die Prinzen von Geblüt, die höch-
sten Kronbeamten, die Cavaliere der Garderobe und
jene Seigneurs, denen der große Zutritt — to8 Zranck68
aoti-668 — gebührte. Zu ihnen zählten namentlich die
früheren Gouverneure des Königs.
Die Toilette beginnt. Der König zieht Strümpfe
und Hemd an. Da wird die Thüre aufgethan und die
nämliche Lakaienstimme, die sich schon vernehmen ließ,
ruft auf Befehl des Oberstkammerherrn: „Der erste Zu-
tritt!" llla prämiere Ontree!) Darauf hin erscheinen
die Leibärzte, die nicht im Dienst befindlichen ersten
Kammerdiener und der Träger eines gewissen Appara-
tes, den wir nicht näher bezeichnen wollen. Ist der
König hieraus soweit angekleidet, daß er nur noch den
Nock anzulegen hat, so wird von Neuem gerufen: „Die
Kammer!" Und nun treten fämmtliche Zur Kammer
gehörende Herren ein, die Pagen, ihr Gouverneur, die
Stallmeister, die Almoseniere, zuletzt alle die Höflinge,
denen der Zulaß zum Oeil de Boeuf gewährt ist.
Ist der König vollständig in Toilette, so werden die
beiden Thürflügel geöffnet und die übrigen Beamten und
Offiziere, die Fremden und Neugierigen, vielleicht auch

Das Buch für Alle.

irgend ein Schriftsteller eingelassen, der in tiefster Unter-
thänigkeit den König ersucht, die Widmung seines Buches
allergnädigst annehmen zu wollen. Jetzt begibt sich der
Monarch hinter die sein Bett umschließende Balustrade,
kniet dort auf einem ihm unterbreiteten Kiffen nieder
und spricht, von Almosenieren und anderen hohen Geist-
lichen umgeben, ein kurzes Gebet, worauf er sich die bei
Hofe noch nicht präsentirten Personen vorstellen läßt
und dann sich in sein Konferenzkabinct begibt, wohin
ihm Alle folgen, die den sogenannten Kammereintritt —
l68 ontr668 äs la Ebambrs — besitzen. Die übrige
Menge zerstreut sich in die große Gallerie und wartet
hier ans den Augenblick, der den König aus seinen: Wege
in die Messe vorüber führt.
Mit dem Eoucher — dem Zubettgehen des Königs
— verhielt es sich anders, als mit dem eben beschrie-
benen Lever. Es war nicht blos eine leere Ceremonic,
es war im Gegentheile die wirkliche Prozedur des Schla-
fengehens, die der arme französische Monarch ebenfalls
vor einer Menge fremder Augen und nach genau ge-
regelter Etikette vornehmen mußte, wie er überhaupt
keinen einzigen Moment am Tage hatte, wo er sich selbst
angehörcn, sich selbst leben, bei sich selbst Einkehr halten
konnte. Von frühem Morgen bis in die Nacht hinein
stand er ja gewissermaßen beständig zur Schau. Mit
dem Glockenschlage der elften Stunde stellten sich Abend
für Abend der „Dienst" und die Höflinge ein. Mitt-
lerweile war Alles bis in die kleinste Einzelheit hinein
vorbereitet worden: eine prachtvolle Toilette von Gold-
brokat und Spitzen; der Schlafrock von gestickter weißer
Lyoner Seide, der auf einen: Lehnstuhl von rothen:
Saffian ausgebreitet lag; das mit einem Atlasstreifen
umwickelte Nachthemd; zwei Kissen von golddurchwebtem
Tuche, auf die man Nachtmütze und Nachttaschentücher
legte. Zur Seite sah man die mit den: Schlafrock aus
gleichem Stoffe bestehenden Pantoffeln neben den an
der das Bett einfriedigcnden Balustrade postirten Pagen.
Der König erschien. Der erste Kammerherr nahm
seinen Hut und seinen Degen in Empfang und übergab
beides einem seiner Untcrbeamtcn. Nach einen: kürzeren
oder längeren Gespräch mit den ihm vertrauteren Höf-
lingen schritt der Monarch in den von der Balustrade
abgegrenzten Raum hinein, warf sich mit einem der
Almoseniere, der einen hohen goldenen Leuchter mit zwei
Wachskerzen hielt — die Prinzen durften sich nur eines
einarmigen Leuchters bedienen — auf die Kniee uud
verharrte einige Minuten in stiller Andacht, während
der Priester das ,,(^ua68imu8, omnipotent Darm" (wir
flehen zu Dir, allmächtiger Gott), das übliche könig-
liche Abendgebet, recitirte. Nach dessen Beendigung wurde
der Leuchter dem ersten Kammerdiener übergeben, der
ihn, auf den Befehl des Königs, einem der anwesenden
Edelleute überreichte, dem eine besondere Huldbezeigung
zu Theil werden sollte. Diese Ehre des Leuchtercmpfan-
gens wurde von den: höchsten Adel Frankreichs so eifrig
erstrebt, daß mancher Cavalier seinen Verdruß nicht zu
verbergen im Stande war, wenn er sich in seinen des-
fälligen Erwartungen getäuscht sah. So erkrankte einst
der Marschall v. Broglie, ein an Siegen und Lor-
beeren reicher französischer Feldherr, Vorfahr des gegen-
wärtig so viel genannten Staatsmannes, ganz ernstlich,
als er längere Zeit hindurch nicht durch Darreichung
des königlichen Nachtleuchters ausgezeichnet wurde.
Nunmehr legte der König seinen Rock ab, dessen
rechten Aermel der Oberstgarderobemeister, der Herzog
v. Lian.court, ausziehen hals, während am linken Aer-
mel einer der ersten Garderobemeister, der Graf von
Boisgelin oder der Vicomte v. Chauvelin, das näm-
liche Geschäft verrichtete. Hierauf ergriff der König fein
Nachthemd, das ihm von: ersten Kammerherrn dar-
geboten worden war. Befand sich indeß einer der Prin-
zen von Geblüt anwesend, so stand diesem allein das
Recht zu, dem König das Hemd anzuzieheu, was die
höchste Auszeichnung war, die man in: Hofdienst über-
haupt erlangen konnte. Der erste Kammerherr präsen-
tirte nun den Schlafrock, während der Monarch ans
den Taschen seiner Kleider Geldbeutel, Brille, Messer
und einen mächtigen Schlüsselbund herausnahm, dann
seine Beinkleider Lis auf die Fersen herabfallen ließ
und in dieser cigenthümlichen Situation oft noch lange
mit feiner Umgebung plauderte. Endlich fetzte er sich
auf einen Fauteuil. Einer der Hofjnnker und einer der
Herren von der Garderobe knieten nun zu beiden Seiten
des Königs nieder und bemächtigten sich jeder eines sei-
ner Beine, um ihm Schuhe uud Strümpfe auszuziehen.
Jetzt war der Augenblick für die Kammerpagen gekom-
men, die nun herantraten, um ihren: Gebieter die Pan-
toffeln überzustreifen. Damit war zugleich das Signal
für die Entfernung der Mehrzahl der anwesenden Höf-
linge gegeben. „Gehen Sie hinweg, meine Herren!"
! rief der Thürhüter mit Stentorstimme aus, worauf nur
noch die Prinzen, der spezielle Dienst und diejenigen in:
Gemache verblieben, die den „kleinen Zutritt" hatten.
Sie unterhielten den Monarchen, während man ihn für
die Nacht coiffirte. Da fehlte es dann nicht an heiteren
Worten und pikanten Anekdoten, die den gutmüthigcn
Ludwig X VI. herzlich lachen machten, so daß von seiner
Fröhlichkeit der anstoßende Oeil de Boeus widerhallte.

95

Ehe die furchtbaren Prüfungen seiner letzten Lebensjahre
an ihn herantraten, war dies der Augenblick, da der
König sich von Anstrengungen und Zwang des Tages
erholte. Er trieb dann allerhand Neckereien mit seinen
Umgebungen, nicht nur mit seinen Pagen und seinem
Leibkapitän, sondern auch Wohl mit einem alten Kam-
merdiener, die sich sammt und sonders durch solche aller-
gnädigste Herablassung überaus beglückt fühlten.
Zwischen Lever und Eoucher trat zu Zeiten noch ein
dritter feierlicher Toilettenakt ein, das Debotter, d. h.
das Stiefelausziehen nach der Jagd, das fast unter den
nämlichen Förmlichkeiten vor sich ging, wie die beiden
anderen Eeremonien, die wir soeben geschildert haben.
Bekanntlich erforderte es damals die feine Sitte, daß
Stiefeln lediglich auf der Reise, zu Pferde oder auf der
Jagd getragen wurden, niemals jedoch auf dem Parqnct
eines Salons oder Gesellschaftszimmers, überhaupt nicht
in den inneren Räumlichkeiten eines vornehmen Hanfes
sich bewegen durften.
Wir müßten ein Buch, nicht einen in enge räum-
liche Schranken gewiesenen Journalartikel schreiben, woll-
ten wir die wesentlichsten und charakteristischen Züge des
am Hose des altfranzösischen Königthums zu Versailles
herrschenden Ceremoniels auch nur andeutend berühren;
darum mögen zum Schlüsse unserer mit flüchtigen Stri-
chen gezeichneten Skizze blos noch einige wenige beson-
ders auffällige Einzelheiten Erwähnung finden, die mit
den angeführten An- und Auskleideceremonien in: Zu-
sammenhänge standen.
Die Garderobe des Königs ward in einen: Gemache
aufbewahrt, das an der Seite der großen marmornen
Prachttreppe des Schlosses lag, mit seinen Fenstern aber
aus einen kleinen Hof hinaus ging. Hier hingen und
lagen in dichten Hausen Wüsche und Kleider das Aller-
christlichsten, und jeden Tag wurde daraus, in große
Sammetteppiche geschlagen, das zur Morgen- und Abend-
toillette des Monarchen Nothwendige in die betreffenden
Schlaf- und Ankleidelokalitäten getragen, was stets in einer
Art feierlicher Prozession geschah. Ebenso legte man
allabendlich unter das Kopfkissen des Königs ein kleines
Bündel Wäsche, welches an einen zwei Fuß langen
Degen geknüpft war. Allerdings lag die königliche
Garderobe vom Schlafzimmer etwas fern; warum aber
hielt man denn nicht immer ein größeres Quantum
Wüsche in irgend einem Möbel des Schlafraumes zu
allfälligem Gebrauche in Bereitschaft, und was sollte
der räthselhafte Degen dabei? Unser Gewährsmann,
Gras Hözecques, der doch über alle höfischen Gebräuche
und Etikettesormen so genau orientirt ist, vermag den
Ursprung dieser' sonderbaren Gewohnheit nicht zu er-
gründen.
Leichter erklärt sich die andere Sitte, daß alle Abende
im Schlasgemache des Monarchen ein Brod, zwei Fla-
schen Wein und eine Karaffe mit geeisten: Wasfer zu-
recht gestellt wurden, wiewohl Ludwig XVI. dieses „lln
on8" (im Falle), wie man den also bereit gehaltenen
Mundproviant nannte, sich niemals bediente. Beiläufig
sei hier bemerkt, daß auch an: Tage stets allerhand gute
Dinge für den König bereit standen, Syrups, Zucker-
werk und andere ähnliche Leckereien, die jedoch gleich-
falls nur selten einmal ihrem Zwecke dienten, Ludwigs
Appetit zu stillen, falls dieser sich zwischen den verschie-
denen eigentlichen Mahlzeiten einnull einstellte, denen
der König immer die vollste Gerechtigkeit widerfahren
ließ. Alle diese Speisen und Getränke mußten von einem
dazu kommandirten Hofbeamten vorher gekostet werden,
um eine mögliche Vergiftung des erlauchten Herrn zu
verhüten. Bei den festen Gerichten, Fleisch w., ward
diese Probe derart bewerkstelligt, daß der mit derselben
betraute Cavalier ein Stückchen Brod in die Sauce
tauchte und dann mit der Schnitte leise über das Fleisch-
gericht hinstrich.
In solchen und noch einer Menge anderer Etikette-
formen, vom frühesten Tage bis in die Nacht hinein
von Aufmerksamkeiten, Dienstleistungen, Huldigungen jede
Minute und jede Sekunde umringt und überhünft, lebte
Ludwig XVI., auch nachdem längst die entsetzliche Sünd-
fluth hereingebrochen war, in deren Blutströmen die alte
Zeit untergmg und der König für die Sünden seiner
Vorgänger büßen mußte, lebte er Lis zu jenen: 4. August
des Jahres 1792, da man ihn und seine Familie zuerst
in den Palast des Luxemburg, hierauf in das feste Schloß
des Temple als Gefangene abführtc. Wie mochte den
unglücklichen Monarchen ein so jäher Schicksalswechsel
berühren! Was mochte er unter einer solchen Wan-
delung irdischer Herrlichkeit leiden, wenn er auch die
erhabene Ruhe eines Märtyrers zeigte und in diesen
Tagen der härtesten Leiden, die dem Sterblichen beschie-
den sein können, und bis zu seinem Tode auf dem
Schaffot der Welt bekundete, daß er zwar keiner der
größten, so doch einer der besten und tugendhaftesten
Könige war, welche jemals die Krone des heiligen Lud-
wig getragen, der sittenreinste und menschlich liebens-
würdigste aller französischen Bourbonen!
 
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