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Hrst 25.

Der Tvd der Kaiserin von Rußland.
(Siche das Bild auf Seite 588.)
Am 3. Juni ist die Kaiserin M n r i n Alexandrowna von
Rußland (früher Alaximiliane Wilhelmine Auguste Sophie
Marin), gehören nm 8. August 1824 als Tochter des Groß-
herzogs Ludwig II. von Hessen, durch den Tod von ihren
laugen und schweren Leiden erlöst worden. Schon im Jahre
1872 hatte der erste Leibarzt, Professor Botkin, bei der nun-
mehr Entschlafenen die Lungenschwindsucht konstatirt, und seit
länger als Jahresfrist war ihr Zustand als hoffnungslos zu
bezeichnen. Tie Kaiserin suchte im Laufe des Jahres 1879 Lin-
derung für ihr Leiden in dem wärmeren Klima Süd-Frankreichs,
aber vergeblich, und der Wunsch, in der Heimath die letzten
ihr noch vergönnten Tage zuzubriugcu, veranlaßte sie, noch
mitten im Winter (Ende Januar dieses Jahres) die Rückreise
nach St. Petersburg auzutrcteu. Schwere Gemüthserschütte-
ruugeu, namentlich in Folge des Attentats im Winterpnlast,
trugen natürlich dazu bei, ihre letzten Kräfte immer mehr
aufzureibcn, und schon seit Monaten konnte sie seitens der
Leibärzte 1>r. Botkin und Alischewski nur noch durch An-
wendung künstlicher Mittel nm Leben erhalten werden, bis
in der Frühe des obengenannten Tages ein Herzschlag dem
schmerzensvollen Dasein der hohen Fran ein Ziel setzte. —
Nachdem die Seciruug, Einbalsamirung und Einsegnung der
Leiche vorgenonnnen war, wurde dieselbe am Mittag des
5. Juni ans dem Sterbczimmer in die Schloßkirche des
Wiutcrpalastcs getragen, nm dort nach russischer Sitte drei
Tage lang zum Handküsse ausgestellt zu bleiben. Am 7. Juni
sand alsdann die feierliche Uebcrführnng der Hingeschiedenen
nach der Peter- und Paul-Festung statt, unter deren Kirche
sich die Familiengruft der Romanow (des herrschenden Hauses)
befindet. Mittags nm 12 llhr verließ der ungefähr 5000 Per-
sonen starke prunkvolle Tranerzng unter dem Geläute aller
Glocken den Wintcrpalast und bewegte sich längs der Newa-
Quais, wo alle Häuser schwarz drapirt und au verschiedenen
Stellen Tribünen errichtet waren, nm die herbeigcströmten
Massen der Zuschauer ansznnehmen. Zu beiden Seiten des
Zuges bildeten Truppen Spalier. Der imposante Leichen-
kondnkt selbst umfaßte zahlreiche Abtheilungcn von Truppen
und Hosbcamten, jede von einem Cercinonicnmeister geführt,
ferner Wappenherolde und Deputationen der Gilden mit
Bannern und Fähnchen, mit kostbaren Paradeivagen dn-
zwijchen, dann die Geistlichkeit in prächtigen Kirchengewündcrn.
Der Lranerwagcn wurde von acht schwarzbehangcnen Pserden
gezogen; das Wagengestell war schwarz mit reichen Silber-
beschlägen, unter einem von der Kaiserkrone überragten Bal-
dachin ans weißer, mit Gold gestickter Seide ruhte der
Sarg, neben dem zwei Obersten der Kaiserin-Kürassiere
postirt waren, während die Schnüre und Quasten von
zu beiden Seiten des Wagens gehenden Kammerhcrren ge-
halten wurden und andere Hoschargcn mit brennenden
Kerzen daneben schritten. Unmittelbar hinter denn Trauer-
wagen folgte, wie unser Bild auf Seite 588 zeigt, welches
den Moment darstellt, wie der Zug die unmittelbar vor der
Peter- und Paul-Festung gelegene Troizki-Brücke (deren
Laternenpfosten schwarz drapirt waren) pasfirtc, Kaiser Ale-
xander zu Pserde in der Uniform der Kaiserin-Kürassiere,
hinter ihm sein Bruder Großfürst Nikolaus, der deutsche
Kronprinz und der Großfürst Thronfolger, dann die übrigen
Großfürsten und zur Tranercercmonie eingetroffeneu fremden
Prinzen. In der Festungskirche trugen der Kaiser, sämmtliche .
Großfürsten, sowie die fürstlichen Gäste den geschlossenen Sarg
zu dem inmitten der Kathedrale errichteten Katafalk. Ans
diesem wurde die Leiche dann abermals nnfgcbahrt, indem nun-
mehr Kammerjuuker den Deckel des Sarges abhoben, worauf
das Todteuamt celcbrirt wurde. Am 8. Juni endlich fand unter
dein Geläute aller Glocken und Kanonendonner die Schließung
des Sarges nnd die Beisetzung der verstorbenen Kaiserin in der
Kaisergrusl statt, womit die Trauerfeierlichkeiteu beendet waren.

Die Dewohner der (Mischen Hroviiy Segovia.
(Siche das Bild auf Seile 5:9.)
Spanien ist dasjenige Land, in welchem das Landvolk :
noch nm zähesten an seinen malerischen alten Bolkstrachtcn l
hängt, und namentlich die Bewohner der gebirgigen Provinzen
sind cs, welche diese Art von Pietät an den Tag legen. Zn
diesen gebirgigen Provinzen Spaniens gehört auch theilweise
die Provinz Segovia, welche sich am nordwestlichen Fuße der
Sierra de Guadarrama hindehnt nnd deren Gelände in
wellenförmigen Hügeln nnd Terrassen allmählig zu dein eben
genannten Hochgebirge anfstcigt. Sie hat Verhältnis;,näßig die
wenigsten Städte nnd die schwächste Bevölkerung, unter wel-
cher wieder die bäuerliche weit überwiegt, nnd die Einwohner
derselben sind zwar fleißig, genügsam, gastfreundlich nnd ehr-
lich, aber ziemlich roh nnd stehen ans einer sehr niedrigen
Bildungsstufe. Ihre Tracht aber ist eine der schönsten und
malcrifchesten, wie ans unserem Bilde auf S. 589 zu ersehen
ist. Die der Männer besteht ans einem leichten Filzhnt mit
spitzen, niedrigen Kopf nnd breiter Krempe, welcher mit
wollenen oder feidencu Bändern und Büscheln ansgepntzt ist
und durch ein Sturmband nm das Kinn befestigt wird! fer-
ner ans einer kurzen, mit Sammetstreifcn eingefaßten Jacke
von blauen, oder braunem Tuch nnd einer Weste von bun-
ten, Kattun oder Damast. Das bis unter die Kniee reichende
braune oder graue Beinkleid ist mit farbigen Borten nnd
Litzen in hübschen Mustern benäht, an den äußeren
Seiten offen nnd mit Haften oder Knöpfen versehen, und
unter diesen, Schlitz erscheint das reinliche weiße Unterbein-
kleid. Die Kniehose wird durch die breite Fajn oder Schärpe
ans gestickten, rothen Wollstoff oder gemustertem Kattun zn-
sammcngehalten, nnd darüber wird noch ein lederner Gürtel
getragen, in welchen, ein Wahlspruch entweder mit Gold-
öder Silberfüden eingestickt oder in Flittern nnsgenäht ist.
Die Fußbekleidung bilden starke Bundschuhe nnd hohe, bis
zum Knie reichende Gamaschen ans Tuch oder Leder, welche
ebenfalls in schönen Mustern mit bunten Litzen besetzt sind.
Weniger schmuck ist die Frnnentracht, denn die bunte,
mit Stickerei nnd Flittern besetzte nnd in einem buschigen

Das Buch für Alle.
Knauf von Wolle oder Chenille endende, sonderbar gesonnte
Haube, von welcher breite Seidenbänder über den Rücken
hinnnterhüngen, ist unschön und verdeckt zudem das Haar
bis tief in die Stirne hinein. Ein bauschiges gesticktes weißes
Tuch umgibt den Hals; ein Mieder von Damast oder Druck-
kattun umschließt die Taille, von welcher ein faltiger Rock
von dickem Wollstoff nnd meist rother oder blauer Farbe,
nut schwarzen Snmmetstreifen, Goldborten nnd Litzen besetzt,
bis zu den Knöcheln hinabfüllt nnd den weißen Strumpf nnd
die ausgeschnittenen Lederschuhe mit großen silbernen Schnal-
len zeigt; eine Schürze aus dunklen, Wollenzeng nut reichem
Besatz von Falbeln, Schnüren nnd Litzen vollendet den Anzng.
Die Hauptdarsteller des Pasßonsspieles in Ober-
Ämmergan.
(Siche die 5 Porträts auf Seite 59s.)
Bekanntlich finden in dem oberbayrischen Dörfchen Obcr-
Ammergnu alle zehn Jahre in frommer Erfüllung eines zur
Pestzeit in, Jahre 1683 gethanen Gelübdes der damaligen
Einwohnerschaft die Aufführungen des berühmten Pass io ns-
spicles statt. Am Pfingstmontage dieses Jahres, dem17. Mai,
ist nun unter großartigem Fremdenzndrange wiederum ein
Cyklns dieser Vorstellungen eröffnet worden, nm an allen
Sonn- nnd Festtagen der Monate Mai, Juni, Juli, August
nnd September (mit Ausnahme des Fronleichnams- nnd
Peter- und Panlsfestes) fortgesetzt zu werden. Als Dar-
stellende bei diesen Ausführungen dürfen mir Ortsangchörige
Mitwirken, schlichte Landleute, die dnrch ihre Hanptbejchäfti-
gnng, die Bildfchnitzcrci, allerdings bereits eine gewiße Kunst-
begabung besitzen nnd in, klebrigen dnrch die sich von Geschlecht
zu Geschlecht fortpflanzende Tradition, sowie den Eifer
nnd die Lust und Liebe, womit sie sich in ihre Rollen ver-
setzen, ein geradezu bewunderungswürdiges Ensemble erzielen;
vertheilt werden die Rollen dnrch einen Gemeindeansschnß
unter den, Vorsitz des Bürgermeisters, der bei der diesjähri-
gen Aufführung sowohl als Regisseur wie als Darsteller des
Kaiphas wirkt nnd Lang heißt, übrigens schon seit vierzig
Jahren mitspielt. Ihr Spiel bringt in seiner Schlichtheit
nnd Naivetät eine hinreißende dramatische Wirkung zu
Wege, die schon vor dreißig Jahren Eduard Devricnt in Er-
staunen versetzte nnd auch in diesem Jahre wiederum die all-
gemeinste Anerkennung findet. Unsere Leser werden daher
gewiß mit Interesse die Porträts einiger Hauptdarsteller des
Passionsspieles betrachten, welche wir auf Seite 592 bringen.
— Der Darsteller des Heilandes, auf den sich das Haupt-
interesse konzentrirt nnd von dem in erster Linie das Gelin-
gen der Ausführung abhängt, ist der siebcnunddreißigjnhrige
Bildschnitzer Joseph Mayr (siehe das mittlere Porträt),
der dieselbe angreifende Rolle schon in den Jahren 1870 nnd
1871 dargestellt hat. Seine Bühnenerscheiunng ist von vorzüg-
licher Wirkung nnd seineAktion edel und ergreifend; dieScenen
am Oclberg und bei der Geißelung werden befonders gerühmt
und sein Spiel bei der Kreuztragung nnd am Kreuze selbst
soll über alles Lob erhaben sein. Im Privatleben ist
Mayr, wie gesagt, ein einfacher Bildschnitzer; beim Ausbruch
des deutsch-französischen Krieges wurde er zur 3. Feldbatterie
des 1. bayrischen Artillerie-Regiments eingezogen, durfte aber
in Folge der Verwendung hoher Gönner in München bleiben,
in Civilkleidern gehen und sein langes Haar beibehalten; im
Kreise der Gemeinde genießt er als tüchtiger und geschickter
Arbeiter wie als treuer nnd sorgsamer Familienvater die
allgemeinste Achtung. — Ten Judas spielt der alte Bild-
schnitzer Gregor Lechner (siehe das Porträt unten links),
der für feine Nolle, die sozusagen au, meisten schauspielerische
des ganzen Stückes, eine ungewöhnliche Begabung zeigt nnd
seit 1850 —so lange schon hat der jetzt sechzigjührige Mann
die Rolle inne — viele Tausende dnrch sein wirkungsvolles,
charakteristisches Spiel hingerissen hat. — In der Rolle
des Petrus wirkt IakobHett (siehe das Porträt unten rechts),
dessen Spiel, unterstützt dnrch sein ehrwürdiges, charakteristi-
sches Aenßere, namentlich im Schmerz der Rene nach der Ver-
leugnung des Heilandes, von hoher Wirkung ist; als Joseph
von Arimathia tritt Martin Oppenried er (siehe das
Porträt rechts oben) in der Scene der Kreuzabnahme in den
Vordergrund. — Unter den Darstellerinnen ist Anastasia
Krach (siche das Porträt oben links) zu erwähnen, welche
die Jungfrau Maria in befriedigender Weife gibt, jedoch ihre
Vorgängerin, Franziska Flnnger, nicht zu erreichen vermag.
Scharnhorst's Deiliunili auf dem Lnvaiiden-
Lirchhofe iu Derlin.
(Siche das Bild auf Seite 593.)
Auf den, Jnvaliden-Kirchhofe in Berlin ruhen viele mili-
tärische Nvtabilitäten, so auch der Reorganisator der preußi-
schen Armee nnd Schöpfer der Landwehr, General Gerhard
David v. Scharnhorst, dessen Grab ein 1826 errichtetes,
von Schinkel in künstlerischer Beziehung edel ansgefnhrtes,
fast 6 Bieter hohes Denkmal ziert, das nur unseren
Lesern auf Seite 593 im Bilde vorsuhren. Auf einen, Unter-
bau vou Marmor erheben sich zwei hochgestellte länglich-
viereckige Marmorblöcke, über denen ein mehrfach geglie-
derter, aus demselben Material hergestelltcr und mit Relief-
skulpturen von Tieck geschmückter Block liegt, auf dem ein
schlafender Löwe (in Gußeisen ansgeführt) ruht. Die vor-
dere Langseite trägt die Inschrift: „Scharnhorst — die Was-
fengcfährteu von 1813" und das darunter befindliche Relief
stellt die Schlacht von Groß-Görschen (an, 2. Mai 1813)
dar; die eine Schmalseite enthält die Worte: „Geboren
den 12. November 1756 zu Haemelsee in Hannover", und
das Relief darunter veranschaulicht den Moment, wie der
berühmte Graf Wilhelm von Schaumburg-Lippe, in dessen
Kriegsschule aus den, Wilhelmsstein der junge Lcharnhorst
ausgebildet worden war, den Zögling entläßt. Die Hintere
Langseite mit der Inschrift: „Gerhard David v. Scharn-
horst. K. P- General. Seine Ueberreste wurden im Jahre
1826 von Prag hiehcrgesllhrt, nm unter diesem seinen,
Andenken gestifteten Denkmale zu ruhen", läßt „ns drei

591

Darstellungen erblicken: zunächst Scharnhorst vor der fran-
zösischen Festung Menin, bei deren Belagerung 1794 er sich
in hannöverischen Diensten als Generalstabsoffizier sehr aus-
zeichnete, dann seinen Uebertritt in das preußische Heer am
1. Mai 1801 nnd zuletzt die Schlacht von Prenßisch-Eylan
am 8. Februar 1807, der Scharnhorst beiwohnte. Die zweite
Schmalseite endlich hat die Worte: „Bei Groß-Görscheu ver-
wundet; an dieser Wunde gestorben zu Prag den 28. Innins
1813" nnd das Relief darunter veranschaulicht die Volksbe-
waffnung zum Kampfe vou 1813.
Der Schiffbruch des englischen Dnmpfbootes
„Alabama^ an dem Iller der Seine.
(Siehe das Vüd auf Seite 596)
An, 20. November 1879 verunglückte bei Hochwasser ein
großes englisches Dampfschiff, die „Alabama", welches n,it
einer Fracht Getreide von Amerika ans der Fahrt nach Nonen
begriffen war, an den, linken User der Seinemündnng, auf dessen
Deichkrone es geschlendert wurde und wo es mit den, größten
Thcile seines Rumpfes strandend liegen blieb. Damit war aber
dieser Schiffsnnfall, wie solche an der Küste des Kanals ja gar
nicht selten sind, noch nicht beendet, sondern die eigentliche, in
ihrer Art höchst seltene und merkwürdige Katastrophe sollte erst
nachfolgen. Als sich nämlich die Flnth verlief nnd die gewaltige
Last des Schiffskörpers auf der äußeren, den Deich überragen-
den Seite nicht mehr wie bis dahin dnrch das Wasser getragen
nnd gestützt wurde, brach das kolossale Schiff (die „Alabama"
besaß eine Tragkraft von 2500 Tonnen und eine Länge von 310
Fuß) gerade vor dem Schornstein in zwei Theilc. Der eine der-
selben stürzte auf den äußeren Abhang des Deiches hinab, der
andere blieb oben auf der Krone des letzteren liegen, wie es unser
Bild auf S. 596 darstellt. Man gab natürlich das gestrandete
Schiff allgemein verloren, bis einige geschickte Ingenieure er-
klärten, es retten zu wollen: zwei Engländer, die Gebrüder
Brown, nnd ein französischer Ingenieur, Lelaidier, unter-
nahmen es, die beiden Bruchstücke nach Hüvre zu schaffen,
„in sic in den dortigen Docks wieder aneinander zu fügen.
Das kühne Wagnis; ist auch, was den Transport nach Havre
betrifft, wirklich geglückt: man verschloß nämlich die Arnch-
liicken jedes der beiden Schiffstheile wasserdicht dnrch Wände
von starken Eichcnbohlcn, pumpte dann ans den Räumen das
eingedrnngenc Wasser aus nnd ließ daraus die beiden ans
diese Weise wieder schwimmfühig gemachten Stücke der „Ala-
bama" dnrch Schleppdampfer nach H-Lvre bngsiren, wo sic
auch glücklich nngelangt sind nnd wo die Schiffsbaumeistcr
unzweifelhaft die beiden getrennten Hälften zn einen, see-
tüchtigen Ganzen wieder fest vereinigen werden.
Änna SoleiM.
(Siche da? Bild euf Seite 297.)
Die kurze Episode, in welcher die schöne Anna Boleyn
als Gemahlin König Heinrich's VIII. von England den Thron
dieses launenhaften Wüstlings nnd grausamen Tyrannen
thcilte — eine Ehe, ans welcher die spätere Königin Elisabeth
entsprang — füllt eine der düstersten nnd abstoßendsten Seiten
in den Annalen der englischen Geschichte, die nur in, Folgenden,
anschließend an unser Bild ans S. 597, kurz skizzircn wollen.
Heinrich VIII., geboren 1491, hatte 1509 den britiischen Thron
bestiegen nnd sich im selben Jahre mit Katharina von Ara-
gonien, der Wittwe seines Bruders Arthur, vermählt. Eine
Reihe von Jahren hindurch hatte er mit dieser sanften nnd
anspruchslosen Gemahlin in zufriedener Ehe gelebt, als
er plötzlich in heftiger Leidenschaft zn einem jungen Edel-
fräulein seiner Gemahlin entbrannte, welches 1525 »en in
deren Dienste getreten war. Dieses Edelfrüulein war die
1507 geborene Anna Boleyn, die schöne Tochter des Sir
Thomas Boleyn, welcher 1525 zum Viscount von Rochford
nnd später zum Grafen von Wiltshire ernannt wurde. Sie
war am französischen Hofe erzogen nnd eine so gewinnende
Erscheinung, daß sogar der Erbe des stolzen Hauses
Norlhumberland, Sir Henry Percy, sich um ihre Hand be-
warb, als Anna am englischen Hofe erschien. Diese Hcirath
ward jedoch aus Weisung des Königs, welchen Anna durchaus
nicht erhören wollte, Hintertrieben und das Edelsränlein auf
einige Zeit vom Hose verbannt. Dann aber ließ sie sich, von
Ehrgeiz verblendet, doch zu der Erklärung bewegen, daß sie
die Hand dcs Königs annehmen werde, wenn er die Lchei-
dnng von feiner Gemahlin durchsetzen könne. Diese Schei-
dung fand große Schwierigkeiten nnd kostete dem Kardinal
Wolscy und dem päpstlichen Legaten Campeggio die Gunst
des Königs, ward aber dann doch dnrch den Erzbischof
Cranmer zn Stande gebracht, nnd unser Bild, nach dem Ge-
mälde eines der bedeutendsten.Künstler des heutigen Englands,
G. 'F. Folingsby, stellt den Moment dar, wo Cranmer, den
wir rechter Hand im Hintergründe erblicken, dem König Ge-
legenheit verschaffte, Anna's letzte Bedenken gegen die Hei-
rath mit ihm zn beseitigen. Heinrich ließ sich im Januar
1533 mit der kurz vorher zur Marguije von Pembroke er-
hobenen Anna Boleyn trauen, welche dann aber im Sep-
tember desselben Jahres den König nicht mit dem erwarteten
nnd ersehnten Sohne (seine drei Söhne nnd eine Tochter ans
der Ehe mit Katharina waren jung gestorben nnd nur die
Tochter Maria, Prinzessin von Wales, die nachmalige „blu-
tige" Königin Maria, am Leben geblieben), sondern mit der
schon Eingangs erwähnten Tochter, der nachmaligen Königin
Elisabeth, beschenkte. Heinrich's Leidenschaft für Anna erlosch
bald, nachdem der sinnliche Monarch sich in die schöne Johanna
Seymour verliebt hatte, nnd er hatte jetzt nur den sehnlichsten
Wunsch, sich Anna's ebenfalls zu entledigen. Da eine Ehe-
scheidung auf zn große Hindernisse gestoßen wäre, so veran-
laßte der grausame Wüstling, daß die empörendsten An-
schuldigungen gegen Anna erhoben wurden, woraus man sie
im Tower einsperrte nnd auf Grund dieser entschieden un-
gegründeten Anklagen vor einen bestochenen Gerichtshof stellte,
der sie für schuldig erklärte nnd zum Tode verurtheiltc,
worauf sie am 19. Mai 1536 im Tower enthauptet wurde.
 
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