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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 21.1886

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https://doi.org/10.11588/diglit.48816#0383
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Die Blumenverkiiuferin. Nach einem Gemälde von LoHow. <S. ZSI)

digende Genüsse geboten hätte, als sein Eindringen
in Gesellschaftsschichten, in deren Mitte das Gefühl
ihn nie ganz verließ, trotz aller Ehren dennoch nur
geduldet zu werden, lind herzlicher noch fühlte er sich
zu ihm hingezogen und herzlicher noch klang seine
Stimme, als er ihm erklärte, daß er begierig seinen
Mittheilungen entgegensehe, kein Wort von dem missen
möchte, was einst aus übervollem Herzen niederge-
schrieben worden sei.
„AuS übervollen! Herzen," bestätigte Barnabas Rostig
sichtbar geschmeichelt, indem er die letzten beiden Blätter
von einander trennte, „ja, Mann, das ist das richtige
Wort, und jetzt, nachdem ich so viel hörte, soll es mir
eine Lust sein, die alte Schrift mit Ihnen durchzugehen."

Er klappte das Messer zu, schob es in die Tasche,
fuhr einige Male glättend über das erste Blatt hin,
und das Haupt über das Buch neigeud begann er
langsam und ausdrucksvoll zu lesen.
Vierunddreißigstes Aaxitel.
Are Abenteuer des Kaprtarns Hrsenfinger.
„Ich bin geboren wie jeder gewöhnliche Mensch.
Meine Eltern waren Pastorsleute und ich ihr ältester
Sohn; denn mein Bruder kam erst drei Jahre nach
mir zur Welt. Bis zu meinen! fünfzehnten Jahre
besuchte ich die Schule. Da aber in dem Geschlecht
der Rostigs seit undenklichen Zeiten der älteste Sohn
stets für den hochwürdigen geistlichen Stand
bestimmt gewesen, ich selber aber lieber hinter
die Schule ging als hinein, so gönnte ich
meinem Bruder Nathanael die Ehre. Der
hatte nämlich einen guten Kopf und viel Sanft-
muth. Daher entschloß ich mich kurz und
rückte eines Tages aus. Ich benutzte dazu die
großen Ferien, was meinen armen Eltern viel
Kummer verursachte. Später schrieben sie mir,
daß sie nicht gegen mein Glück sein wollten,
und dies beruhigte mein Gewissen. Als sie
meine Flucht entdeckten, befand ich mich an
Bord eines Ostindienfahrers und theerte Wanten
wie ein Alter. Von meiner Schiffsjungen-
und Leichtmatrosenzeit ist nicht viel zu berichten,
und als ich erst als Vollmatrose fuhr, da gab's
Keinen, der es mir in meinem Metier zuvor-
gethan hätte. Wo ich überall gewesen bin und
auf welchen Schiffen ich fuhr, kann ich selber
nicht mehr genau aufzählen; ich stehe daher
lieber ganz davon ab. Ich hätte Wohl die Navi-
gationsschule besuchen, Steuermann und Schisser
werden können, allein das paßte mir nicht in
meinen Kram. Und bis heute ist es mir noch
nicht leid geworden. Denn man sollte nicht
glauben, was ich erlebte, bis ich das See-
fahren vor der Zeit an den Nagel hängen
mußte; denn die Hand war weg und in der
Noth frißt der Deibel Fliegen."
Hier richtete Barnabas Rostig sich auf,
und nach einem entschuldigenden: „Wir sind
ja unter uns, meine Herrschaften!" fuhr -er zu
lesen fort:
„Wie ein Räthsel liegt es hinter mir, und
wer weiß, ob das jemals gelöst wird. Die
Leute verwundern sich, daß ich nur noch
für das arme geschundene Volk von: blauen
Wasser lebe; wenn sie's nur wüßten! Da
würde es Manchem wie ein Leuchtfeuer auf-
gehen. Nämlich —"
Bedächtig schlug er das erste Blatt um,
glättend fuhr die Klammer darüber hin, dann
tönte seine ernste Stimme wieder durch das
Zimmer, während der dicke Zeigefinger den
Zeilen folgte und den Augen gleichsam den
Kurs vorschrieb:
„Nämlich, es ist nichts so gut, daß es nicht

Das Loggbuch des Kapitams Eisenfinger.
Roman
von
Balduin Möllhansen.
(Fortsetzung.) (Nachdruck verboten.)
nd jetzt noch Eins," fügte Kapitain
Eisenfinger hinzu, „wenn ich Ihnen die
Geschichte des ersten Abschnittes meines
Lebens vorlese — übermäßig lang ist sie
ja nicht, und mit Geduld kommt man
über jede Windstille hinweg —
so werden Sie als gebildete Leute den Ver-
hältnissen ein wenig Rechnung tragen. Näm-
lich, als ich mit meinen Aufzeichnungen den
Anfang machte, hatte ich an die zwanzig Jahre
auf See verbracht. Was das bedeutet, versteht
nur Derjenige, der ein richtiges Volkslogis
kennen lernte und keine Ursache, auch keine
Gelegenheit fand, seine Manieren viel zu ver-
feinern. Später, nach langjähriger Uebung, ging
es mir freilich stetiger von Händen, aber gerade
in diesem ersten Theil macht sich der Jan
Maat wohl über die Gebühr geltend. Finden
Sie also hier" — und das Buch erhielt mit
dem Heft des Messers einen leichten Stoß —
„etwas nicht ganz nach Ihrem Geschmack, so
nehmen Sie es hin, wie der Schiffer eine
widrige Kühlte, der er mit aller Kunst nicht
auszuweichen vermöchte. Denn fortlassen darf
ich nichts, und wollte ich ein kräftiges See-
mannswort überschlagen, gäb's sicher heillose
Havarie in der Fortsetzung."
Mit großer Gemüthsruhe begann Barnabas
Rostig nunmehr die Spitze des Messers zwischen
die verklebten Blätter zu schieben und eins
nach dem anderen von seinen langjährigen
Banden zu besreien. Die beiden Gatten be-
obachteten ihn unterdessen mit inniger Teil-
nahme. Eine Treuherzigkeit, wie eine solche
sich in seinem Wesen offenbarte, war ihnen
bisher fremd geblieben, in um so höherem
Grade bestach sie dafür ihre Herzen. Selbst
wenn der Geheimrath noch nicht durch Un-
glücksfälle, namentlich durch die schwere Er-
schütterung seines bisher gesunden Körpers
empfänglicher für milde Regungen, geworden
wäre, hätte er schwerlich hie Kraft besessen,
sich dem besänftigenden Einfluß des Kapitains
Eisenfinger zu entziehen. Er mochte den patri-
archalischen Frieden, welchen derselbe in den
ihm näher stehenden Kreisen verbreitete, mit
dem schablonenhasteu Formenzwaug vergleichen,
der in seinem eigenen Hause waltete. Er
mochte sich fragen, ob ein engerer Verkehr mit
dem einst mißachteten Landgeistlichen, dem '
Bruder des vor ihm sitzenden prächtigen alten
Burschen, ihm nicht reinere, ihn mehr befrie-
 
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