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M Zo. IRrrftorrte Fnrrr i Ven-D e rtiriM. Inhrg. iM.


Djoka SrnnUch,

Mary giitg, so rasch sie die Füße tragen konnten,
und Miß Jessie Jefferson blieb allein zurück. Zunächst
stand sie wie erstarrt, wie ein Steinbild still und ruhig
da. Der Gedanke, ihren Vater verlieren zu können oder
ihn auch nur in Gefahr zu wissen, hatte sie gleichsam
gelähmt.
Ihr Vater! Er war ihre Welt, ihr Alles. Er war
ihr Bruder und Schwester und Mutter zugleich. Sie
hatte Niemand sonst aus der Welt, Niemand, dem sie
vertrauen durfte, Niemand, der sie schützte, der ihre
Interessen wahrnahm, Niemand, der sie liebte und den
sie liebte.
Dann hörte sie, wie im Schloß Bewegung entstand,
wie ein eifriges und eiliges Hin- und Herlaufen begann
und wie endlich die Diener über den Schloßhof hinweg-
sagten in die Nacht hinaus. Das junge, noch nicht ein-
mal achtzehnjährige Mädchen preßte die schmalen aristo-
kratischen Hände auf das Herz, als ob sie damit das
wilde Toben ihres Blutes Hütte beruhigen können. Hilf-
los und ängstlich flogen die Blicke durch den lururiös
ausgestatteten Raum, in dem sie sich befand, rind end-
lich, wie um sich von einer unerträglichen Sorge und

Kurz nach Mitternacht brachte inan die Leiche ihres
Vaters in's Schloß. Leise und heimlich stellte man die
Bahre in das Erdgeschoß, damit die Tochter,
die nunmehrige Erbin und Herrin von Schloß
und Herrschaft Westhampton-Court, nichts da-
von hören sollte.
Die Diener standen scheu und still iir den
Gängen und Ecken herum, Mrs. Mary
Wimpleton lag im Hausflur vor der Bahre
und weinte, daß es einen Stein hätte erbarmen
können. WaS nun? Wer hatte Muth genug,
der jungen Herrin den Unglücksfall mitzu-
theilen?
Man hatte die Leiche Mr. Jefferfon's in
den Steinbrüchen gefunden, die etwa drei
englische Meilen vom Schloß sich befanden
und gewöhnlich die Fuchslöcher genannt wur-
den. War dort ein Unglücksfall oder war ein
Verbrechen geschehen? War Mr. Jefferson
in die Fuchslöcher gefallen oder gestoßen wor-
den? Man wußte nichts darüber. Nur daß
er todt ivar, war sicher.
Die junge Zofe der Miß Jessie kam.
„Mrs. Wimpleton," sagte sie zu der ehema-
ligen Amme ihrer Herrin, „Miß Jessie ver-
langt nach Ihnen!"
Mary schrak bei dieser Meldung heftig
zusammen. Nun kam der schreckliche Augen-
blick. Was sollte sie thun? Ihrer jungen,
schönen, süßen Herrin ein solches Unglück mit-
theilen? Hieß das nicht noch einen Mord
begehen?
„Ach, du himmlischer Vater!" seufzte sie
und stieg langsam die Treppe hinauf.
Lie mußte gehorchen, mochte kommen, was
da wollte. Zögernd trat sie bei Miß Jessie
ein.
Das junge Mädchen sah bleich und auf-
geregt aus, die hübschen, großen Augen waren
noch größer als gewöhnlich und halten etwas
unbeschreiblich Zerfahrenes, sie sahen zugleich
süß und leidend aus. Die gewaltsamen Be-
ruhigungen hatten einen unheimlich irren Aus-

U
iß Jessie!"
„Bist Du schon wieder da, Mary?
Was willst Du schon wieder?"
„Miß Jessie, es ist fast zehn Uhr."
„Mein Gott, ich kann es doch nicht
ändern. Was nullst Du damit sagen?"
„Und Mr. Jefferson ist noch nicht
zurück!"
Die junge Dame ließ ihr Buch, in
dem sie geblättert hatte, fallen und richtete sich von der
Chaiselongue auf. Groß und fragend ruhten ihre
Augen auf den Zügen der Dienerin, die vor
ihr stand Der Blick hatte etwas Starres,
etwas Entsetztes und Erschrecktes.
Gleich darauf milderte sich aber der Aus-
druck wieder und, wie um sich und auch die
Dienerin zu beruhigen, sagte sie lächelnd:
„Der Vater wird schon kommen, Mary, be-
ruhige Dich nur, er wird gewiß kommen."
Die Frau beruhigte sich aber nicht. Mit
dem Ausdruck lebhafter Angst nnd Besorgniß
in den gutmüthigen Zügen fuhr sie aufgeregt
fort: „Seit zweiundzwanzig Jahren, die ich
nun hier im Hause bin, ist es nicht vorgekom-
men, daß Mr. Jefferson auch nur zwei Mi-
nuten nach sieben Uhr nach Hause gekommen
wäre. Und jetzt ist es gleich Zehn. Miß Jessie,
wenn ihm ein Unglück zugestoßen wäre?"
„Das verhüte der Himmel!"
„Wollen Sie nicht befehlen, daß sich John,
Edward und Harry ausmachen und den gnä-
digen Herrn suchen sollen? Kann er nicht in
der Finsternis; in der Nähe der Fuchslöcher
abgestürzt sein? O, lassen Sie die Diener
aufsitzen, Miß Jessie. Sie sollen ihn suchen!"
Wieder richteten sich die wunderbar spre-
chenden, großen Augen der jungen Dame
auf das Gesicht der ängstlichen Dienerin,
diesmal wollte aber der starre Schrecken, der
in dem Blick lag, nicht wieder weichen. Die
sonst anmuthigen, überaus zarten rind jugend-
frischen Züge schienen zu erstarren, zitternd
fuhr die schmale, seingegliederte Hand über
das aschblonde, etwas wellige Haar. .
„Du meinst wirklich, Mary, mein Vater
sei in Gefahr?" stieß sie heftig hervor.
„Ach, du mein Gott, Miß Jessie, möglich
ist ja Alles. Befehlen Sie doch nur, daß die
Leute nach ihm suchen."
„Sofort sollen sie aufsitzen, Mary. Alle
miteinander! hörst Du, Mary? Alle! Schnell,
schicke sie fort. Eile Dich, Mary!"

Noir
ans v. Hrldrungen.
- (Nachdruck verboten )

Jessie's Vormund.
Roman aus der englischen Gesellschaft.

Angst zu befreien, murmelte sie für sich: „O, Papa
wird kommen! Er wird sicher kommen!"
Und es schien in der That, als ob sie sich mit diesem
eigenen Zuspruch beruhigen könne. So furchtbar ein
Unglück, das ihrem Vater widerfahren wäre, sie be-
troffen hätte, so groß war auch die Hoffnung auf seine
glückliche Heimkehr. Was hätte denn auch werden sollen,
wenn ihr Vater plötzlich von ihr geschieden wäre? Sie,
eilt Kind noch, ohne jede Kenntnis; von Welt und Men-
schen, ohne Erfahrung, wäre ja mit all' dein ungeheuren
Vermögen, das ihr Vater in einem langen, arbeits-
reichen Leben zusammengebracht hatte, ein Spielball der
menschlichen Leidenschaften und das Ziel von Jntriguen
aller Art geworden! Wie Hütte sie, ein Kind in der
Welt, den wüthenden Stürmen des Lebens widerstehen
können? Das war ja ganz unmöglich! Von Zeit zu
Zeit rief sich Jessie Jefferson daher immer wieder
tröstend und beruhigend zu: „Papa wird kommen! Er
wird sicher kommen!"
 
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