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Heft 23. Ilknstorvte Fmnilren-Deitnng. Iahrg. 1894.




er-

Aeöerrascht- Nach einem Gemälde von F. Fagerlin. (S. 550)

Gegend — ich bin aus Tewkesbury — ein angesehener
und geachteter Mann. Jetzt bin ich ein — fortgejagter
Schreiber, der morgen nicht weiß, was er essen soll
und nur satt vom Elend ist, das über ihn hereinge-
brochen ist. Miß Jessie Jefferson, wissen Sie, wer das
verschuldet hat?"
„O, mein Gott!" ries diese bei der hastigen, fast
zornigen und wilden Frage Tapperday's aus, „wie kann
ich das wissen?"
„Das hat Ihr Rechtsanwalt Finding, James Finding
in Lincolnsinn, auf dem Gewissen," sagte Tapperday
mit einer gewissen wilden Energie.
Jessie erschrak und machte eine heftige Bewegung.
„Finding?" fragte sie erstaunt.

„Das ist noch nicht Alles, Miß Jefferson," fuhr
Tapperday mit anderer, weichmüthiger Betonung fort,
„denn es handelt sich ja nur um mich. Was lag denn
an mir? Ich war eben ein dummer Kerl, der nicht in
die Welt paßte, wenigstens nicht unter die Gauner,
unter die ich gerathen war. Wenn es sich nur um mich ge-
handelt hätte, nun, so wäre es längst aus und Sie
hätten mich nie gesehen. Aber ich habe eine Schwester,
Miß Jessie Jefferson; nun, sie mag ja nicht so schön
sein, wie Sie, Miß, aber ich habe sie lieb, mehr wie
mich. Deshalb lebe ich noch. Ich konnte sie nicht
verlassen. Kitty — meine Schwester heißt Kitty —
verliebte sich in einen jungen Herrn aus guter Familie,
und dieser junge

Herr machte uns glauben, daß er
Kitty wieder liebe. Noch einmal
schien es, als wenn der Himmel
meiner Schwester die so unverschul-
det verlorene Stellung in der Welt
zurückgeben, ihr Herz, das fast ge-
brochen in Noth und Aengsten,
trösten wolle. In diesem Winter
sollte Hochzeit sein. Da verließ ihr
Bräutigam meine Schwester schänd-
lich und schamlos und machte sie
dadurch noch elender, als sie je
war. Miß Jessie Jefferson, wissen
Sie, wer meiner Schwester und mir
diese Schande gemacht hat?"
Wieder, wie schon vorhin, stieß
Tapperday seine Frage mit einer
Heftigkeit, mit einem Ingrimm her-
aus, der Jessie unwillkürlich er-
schrecken ließ.
„Nein, Mr. Tapperday," sagte
sie nach einer kleinen Pause, „ich
weiß es nicht, kann es auch nicht
wissen."
„Miß Jessie Jefferson," fuhr
Tapperday mit einer gewissen Feier-
lichkeit fort, „das hat uns Ihr
Detter Hugh Jefferson gethan, Ihr
Bräutigam!"
Jessie stieß einen kurzen, schrillen
Schrei aus. Dann bedeckte sie rasch
das Gesicht mit den Händen und
sank seufzend in einem Sessel zu-
sammen.
„Um Gottes willen, Miß Jessie,
was ist Ihnen?" rief Mary er-
schrocken aus und rannte auf sie zu,
um ihr zu helfen. Miß Jefferson
wehrte ihr aber, indem sie sie wie-
der mit der Hand sanft zurück-
schob. Sie war bleich und starr
im Gesicht wie eine Leiche.
„Mein — mein Vetter, Mr.
Tapperday?" fragte sie nach einer
längeren Pause.
„Ihr Vetter, Hugh Jefferson."
„Und das ist Alles wahr, was
Sie da sagen, Mr. Tapperday?"
„So wahr wie Gott lebt,"
wiederte Tapperday feierlich.

Irssie's Vormund.
Roman aus der englischen Gesellschaft.
Von
Hans v. Hrldrungrn.
(Fortsetzung)

- (Nachdruck Verboien.)
iß Jessie lächelte, als sie hörte, wie
Mary Wimpleton dem Schreiber Muth
zu machen suchte. „Nun, Mr. Tapper-
day?" fragte sie, noch
ohne ihn zu sehen,
„haben Sie Angst?"
Du lieber Him-
mel, Angst vor mir,
dachte sie. Dann
stand sie plötzlich auf und wurde
sehr ernst. Angst vor den Men-
schen, dachte sie weiter, ist für ge-
quälte Herzen ein sichereres Erken-
nungszeichen als alle Zeugnisse.
Also war Mr. Tapperday auch ein
verfolgtes und gequältes Wesen —
wie sie!
Als sie sich wieder umdrehte,
stand er schon im Zimmer und
Mary suchte ihn: durch stumme
Gesten Muth einzuflößen.
„Nun, Mr. Tapperday?" fragte
Jessie mit ihrer klaren, sympatbi-
schen Stimme, „Sie hatten mir
etwas zu sagen?"
Er rollte seinen alten Hut ver-
legen in den Fingern hin und her,
sah erst Mary an, und richtete dann
den Blick starr auf einen Tiger,
der in dem Teppich am Boden ein-
gewebt war. Endlich faßte er einen
gewaltigen Entschluß und Hub am
„Miß Jefferson, Sie sehen ohne
Zweifel, daß ich ein armer Teufel
bin, den das Schicksal hart hin und
her geworfen. Aber ich bin des-
halb nicht schlecht und verächtlich,
und was ich sage, ist wohl der Be-
achtung werth, um so mehr, als ich
das Leben von seiner häßlichsten
Seite kennen gelernt habe."
„Ach, daß Gott —" schluchzte
Mary.
„Mary, sei still," wehrte ihr
Miß Jessie, „und laß Mister Tap-
perday reden."
„Miß Jessie Jefferson, ich war
nicht immer der, der ich jetzt bin.
Einst, vor sechs Jahren noch, hatte
ich Haus und Hof, hatte mein ein-
trägliches Geschäft, hatte Freunde
und Gönner und war in meiner
 
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