«k
M 4.
mit größter Gleichgiltigkeit aus ihr verschwunden
wäre, gleichviel wohin, wenn das auf eine nicht gar
zu unangenehme Weise hätte geschehen können, oder wo
er in stumpfer Verzweiflung, in seiner elenden Ver-
kommenheit den ersten Besten todtgeschlagen hätte, um
selbst zu leben, wenn sich die Gelegenheit dazu geboten.
Sein Schicksal — nicht sein Wille, sondern jene
unsichtbare Macht, die bald erhaltend und schonend,
bald verhüngnißvoll in das Leben der Menschen hinein-
greift — hatte ihn zum Glück vor dem Aeußersten be-
wahrt. Zoppo war nicht schlecht und auch nicht dumm.
Er stammte sogar aus einer anständigen, jetzt aller-
dings bis auf ihn selber ausgestorbenen Familie, war
in die Schule gegangen und hatte Allerlei gelernt, aber
von Jugend auf konnte er das verdammte Weintrinken
nicht lassen. Er trank zuviel oder vielmehr: er konnte
zu wenig vertragen, ums aus dasselbe hinausläuft. So
war es gekommen, daß er in der tollen, rücksichtslosen
Jagd, die das Erwerbsleben in Italien ist, immer und
immer wieder zu Boden gesunken war, bis er sich end-
lich, alt und gebrechlich, nicht mehr davon erheben konnte.
So ivar er ein Bettler geworden, ein Kollege jener
ungezählten Tausende, die in Italien auf Straßen und
Plätzen, an Kirchen und Palästen herumlungern und
warten, ob die Wohlthätigkeit der Menschen ihr Leben
noch einen Tag fristen wird oder nicht. Zoppo hatte
..die Hand des Schicksals schwer auf sich gefühlt, aber
das Gräßlichste von Allem ivar ihn: gewesen, wenn er
selbst fühlte, ivie er demoralisirt wurde, so daß er zu-
letzt in dumpfer und stumpfer Verzweiflung gleichgiltig
gegen Verbrechen, gegen Mord und Todtschlag geworden
war.
Nur das nicht wieder! So lautete das kurze, aber
aufrichtige Gebet, das Zoppo Stunde um Stunde zum
Himmel schickte. Sein Wunsch war, einmal wieder
in Besitz einiger Lire zu kommen, um sich damit einen
bescheidenen, aber regelmäßigen Verdienst zu schaffen,
sei es als Zeitungsträger, als Stiefelputzer, wie sie auf
allen Plätzen und Straßen mit ihren Wichsküsten herum-
hocken, oder als Wasserverküufer, Melonenhändler oder
dergleichen. Man sieht — ehrgeizig ivar Zoppo nicht.
„Was zum Henker hast Du dort auf dem Stein zu
thun!" fuhr ihn plötzlich eine rauhe, barsche Stimme an.
Zoppo fuhr erschrocken aus seinen Zukunststräume-
reien auf und sah den Herrn vor sich stehen, auf den
er wartete.
„Gnädiger Herr —" stotterte er erschrocken.
„Herunter mit Dir. Tritt mit mir in's Haus herein.
Bist Du toll geworden, Dich am Hellen, lichten Tag
vor den Eingang des Palastes d'Artignano zu setzen,
damit alle Welt meint, Du hättest hier irgend etivas zu
thun? Daß das nicht wieder vorkommt! Hörst Du?
Ich will nicht, daß Du hier von irgend Jemand ge-
sehen wirst, und wenn Du uns eine Mittheilung zu
machen hast, so kommst Du zu mir, in meine Woh-
nung, die Du ja weißt."
Während dieser Worte war Zoppo eilig von seinen:
stolzen Sitz heruntergeklettert und dem Rechtsanwalt
gefolgt, der ihn in die Portierloge führte, einem kleinen
Raum mit verhängter Glasthür, wo sie unbeobachtet
waren.
„Und nun höre mir zu, was ich Dir zu sagen habe,"
fuhr Don Pasquale fort, „Du hast vorhin behauptet,
Du würdest den Mann, der auf den jungen Grafen
geschossen hat, wiedererkennen, wenn Du ihn siehst.
War es nicht so?"
„Jawohl, gnädiger Herr. Ich werde ihn bestimmt
wiedererkennen, wenn ich ihn sehe," antwortete Zoppo.
„Nun gut. Du hast ja den ganzen Tag nichts zu
thun. Du sollst also den Mann in Rom suchen. Ver-
stehst Du?"
„Das wohl, aber wo soll ich den Mann in der
großen Stadt finden?"
„Das ist Deine Sache. Höre weiter! Ich habe
jetzt mit Francesco gesprochen. Du kannst jeden Abend,
wenn es finster ist und Dich Niemand sieht, hierher-
kommen und Dir etwas zu essen geben lassen. Aber
Du mußt den ganzen Tag suchen. Wenn Du ihn
findest und mir so nnchweisest, daß ich ihn verhaften
lassen kann, so erhältst Du eine Belohnung von drei-
hundert Lire. Hast Du verstanden?"
„Naäonna Lantismwa! So etwas versteht man
schon, gnädiger Herr."
„Nun also, so geh' Deiner Wege. Aber glaube
ja nicht, Du könntest uns betrügen und uns irgend
einen Beliebigen als den Attentäter bringen. Du be-
kommst Deine Belohnung erst, wenn es sich heraus-
gestellt hat, daß Du uns wirklich den richtigen bezeich-
net-hast. Eher nicht einen Soldo!"
„Gnädiger Herr, Sie können sich auf mich ver-
lassen. Ich will nicht ruhen bei Tag und Nacht und
ganz Rom von hinten bis vorn durchsuchen nach dem
Manne, um mir das viele Geld zu verdienen. Aber
wenn nun der Mann überhaupt nicht mehr in Rom
ist?"
„Das ist Dein Pech. Dann hast Du ja immer für
Deine Arbeit Dein Essen. Aber nur werden auch in
diesem Falle schon einig werden. An einigen Lire, um
Das Buch f ü r A l l e.
Deinen Eifer und Spürsinn aufzufrischen, soll es ge-
legentlich nicht fehlen. Und nun geh'! Mach' Dich auf
die Beine."
Zoppo humpelte davon, froh, endlich einmal wieder
eine Beschäftigung zu haben, so sonderbar diese auch
war.
Don Pasquale Sansom war ein geschickter und in-
folge dessen auch stark beschäftigter Rechtsanwalt. Kaum
hatte er den Zoppo abgefertigt, als ihn auch schon seine
Pflicht weiterrief. Er verließ daher rasch den Palazzo
d'Artignano, nahm an der nächsten Haltestelle einen
Miethwagen und fuhr nach dem Tribunal. Obgleich
nun der Termin, den abzuhalten er vorhatte, durchaus
nicht mit der Angelegenheit des Grafen d'Artignano
in Verbindung stand, so wurde er doch die Gedanken
an diese auf dem ganzen Weg nicht los. Wie es seine
Gepflogenheit war, überlegte er, ob das, was er eben
gethan hatte, auch richtig war und was etwa noch zur
Vervollständigung seiner Pläne geschehen konnte.
Als alter Anwalt der Familie d'Artignano kannte
er wie kein Anderer alle ihre Beziehungen und begriff
infolge dessen sehr wohl, daß es dem Grasen Tito
weniger darauf nnkommen konnte, den Attentäter seines
Sohnes mit einigen Jahren Galeere bestraft zu wissen
— natürlich wenn man ihn erst hatte — sondern viel-
mehr darauf, zu wissen, wer dem Verbrecher die Waffe
gegen Alessandro in die Hand gedrückt habe. Er theilte
in dieser Hinsicht die Meinung des Grafen Tito, daß
man es in den: Schlitzen nicht mit einem selbstständig
handelnden Manne, sondern eher mit einem bestochenen
Individuum zu thun habe, mit dem Werkzeug Je-
mandes, der es auf das Leben des jungen Grasen
abgesehen hatte. Daß das aber seine frühere Gemahlin
sein sollte, war eine ganz leere Vermuthung, die aller-
dings durch die Situation der Familie einige Wahr-
scheinlichkeit erhielt, im klebrigen aber durch nichts zu
beweisen war. Wenn es nun Zoppo gelang, den
Schützen ausfindig und dingfest zu machen, so konnte
man wohl hoffen, durch ihn den Sachverhalt zu er-
fahren und die drohende Gefahr, ii: der sich Alessandro
trotz des vorläufig mißglückten Attentates befand, zu
beseitigen.
Don Pasquale hatte den: Kutscher seines Wagens
ein Trinkgeld versprochen, wenn er ihn so rasch wie
möglich nach den: Tribunal brächte, und dieser fuhr
nun wie toll darauf los. Don Pasquale sah in Ge-
danken versunken zum Wagenfenster hinaus, als er plötz-
lich aufmerksam wurde und einen Kneifer aufsetzte, da
er etivas kurzsichtig war. Sein Zweck war, eine Dame
besser zu sehen, die an den neuen Quaibauten des
Tibers bei einem Manne stand, der einen großen
Kasten auf den: Rücken trug. Die Frau war eine
hohe, imposante Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet und
tief verschleiert.
„Bei Gott, ganz die Gestalt der Maria Sondrini,"
murmelte Don Pasquale vor sich hin und wollte aus
dem Wagen herausspringen. Aber der Kutscher raste
wie toll über das Pflaster dahin, und dann überlegte
Don Pasquale auch, daß es ja ganz unnütz sei, das
zu konstatiren. Denn wenn diese Frau, wie Graf Tito
hestimmt wußte, nicht mehr in Florenz ivar, wo sie
all' die Jahre her gelebt hatte, so war ja allerdings
hundert gegen eins zu wetten, daß sie nach Rom zurück-
gekommen sei.
Was konnte es ihm also nützen, unter Versüumniß
einer viel wichtigeren Sache etwas festzustellen, was ja
ohnehin so gut nne sicher war?
Er nmr schon ziemlich iveit von jener Stelle ent-
fernt, als ihn wieder der Gedanke beunruhigte, wer
wohl der Mann gewesen sei, mit dem die Dame sprach,
und als er endlich nach der raschen Fahrt vor dem
Justizpalaste ankam, that es ihm doch leid, vorhin nicht
ausgeftiegen zu sein und die Sachlage genau geprüft
zu haben. Wer weiß, was er Alles dabei gefunden
hätte. Hatte er sich getäuscht, so wäre er wenigstens
beruhigt gewesen. Er verwünschte die Eile des Kut-
schers, der doch nur auf sein Geheiß so rasch gefahren
war.
Aber es war nun zu spät und er trat in das Ge-
bäude ein.
Maria Sondrini war bisher während ihres ganzen
römischen Aufenthaltes noch nicht ein einziges Mal bei
Tag ausgegangen. Sie war in Rom als frühere Schau-
spielerin und spätere Gräfin d'Artignano in den ent-
sprechenden Kreisen natürlich sehr bekannt, und nun war
es ihr peinlich, in ihrer nichts weniger als glänzenden
Lage von früheren Bekannten gesehen zu werden. Und
jetzt, wo sie es zum ersten Male gewagt hatte, sich —
unaufschiebbarer Geschäfte halber — am Tage zu zeigen,
hatte sie auch gleich bemerken müssen, wie gefährlich
das für sie war.
Ihr scharfes Auge hatte in dem Herrn, der sich aus
dem Wagen herausbog, um sie zu fixiren, sofort den
Advokaten des Grafen Tito erkannt. Nur ihrer Geistes-
gegenwart war es zu danken, daß sie sich rasch ab-
wandte, damit er sie nicht auch erkenne. Sie hatte
gute:: Grund, gerade diesem Herrn aus den: Wege zu
gehen, denn wenn er ihr wegen ihrer Abreise von Flo-
renz den Prozeß machte, so konnte sie — wenigstens
zeitweilig — ihrer Pension verlustig gehen, und das
wollte sie denn doch vermeiden. Wenn sie nun auch
glaubte, daß man ihr gegenüber nicht ohne Weiteres
zum Aeußersten schreiten werde, denn sie wußte wohl,
daß man im Palazzo d'Artignano noch immer einen
gewissen Respekt vor ihr hatte, so wollte sie doch jeden
Anlaß zu frühzeitigen Weiterungen vermeiden, in dem
richtigen Vorgefühl, daß die Differenzen für die Zu-
kunft doch nicht ausbleiben würden.
Rasch, weder rechts noch links sehend, ging sie über
die Engelsbrücke hinüber, um nach ihrer Wohnung jen-
seits des Tibers zurückzukehren.
„Signora Maria!" hörte sie sich plötzlich angerufen.
Sie wandte sich überrascht um und athmete etwas
erleichtert auf, als sie in den: Rufer den Cavaliere
Alfossi erkannte.
„Ah, Sie sind es?" erwiederte sie.
„So leichtsinnig, Maria?" fragte Alfossi wie scher-
zend, „oder hatten Sie wirklich so wichtige Geschäfte,
daß Sie nicht bis zum Abend warten konnten?"
„Wohin wollen Sie, Cavaliere?" fragte sie statt
aller Antwort.
„Hm, eigentlich wollte ich wissen, woher Sie kamen.
Aber damit Sie sehen, Gnädigste, wie wenig neugierig
ich bin, und wie sehr ich Ihnen vertraue, will ich
Ihnen mittheilen, daß ich dort drüben meinen guten
Freund, den toskanischen Messerhändler aufsuchen
wollte —"
„Haben Sie solche Freunde?"
„Eine Menge! Der Spitzbube hat mir neulich eine
falsche Fünflirenote ausgeschwindelt, die ich ihm zurück-
geben wollte. Ich habe an solchem Papiergeld keinen
Bedarf."
Frau Maria machte eine eigentümliche, vertraulich-
liebenswürdige Bewegung mit dem Arm.
„Geben Sie mir Ihren Arn:, Cavaliere. — Sie,
mit Ihrem falschen Fünflireschein! Der arme Teufel
wird Ihnen nicht davon laufen. Kommen Sie, wollen
Sie nicht bei mir frühstücken? Ich habe mit Ihnen zu
reden."
Die Art und Weise, wie sie diese kurzen, ab-
gerissenen Sätze hervorbrachte, war geradezu hinreißend;
man erkannte daran die frühere Schauspielerin. Frau
Maria war noch immer, trotz ihrer fünfundvierzig
Jahre, eine schöne Frau, und wenn sie wollte, so konnte
sie wohl noch einen Mann entzücken. Und jetzt wollte
sie es offenbar.
Cavaliere Alfossi war auch in der That entzückt
von ihr. Diese kurze, selbstverständliche Vertraulichkeit
stand ihr reizend.
„Meine Gnädigste, ich stehe Ihnen selbstverständ-
lich zur Verfügung," antwortete er galant, „selbst auf
die Gefahr hin, meinen Mefserhändler und meine fünf
Lire in diesem Leben nie wieder zu sehen."
„Bah! Sie können ihn ja jeden Tag dort drüben
treffen."
„Woher wissen Sie denn das?"
„Mein Gott, ich kann mit dem Operngucker von
meiner Wohnung aus den ganzen Quai übersehen.
Warum sollte ich nicht wissens daß der Messerhändler
seit einigen Tagen stets zu bestimmten Stunden dort
seine Waaren feil hält?"
Er sagte nichts, und sie hatte offenbar Eile, vor-
wärts zu -kommen. Wenige Minuten später waren
sie in ihrer Wohnung. Mit einer auffallenden Haft
fragte Frau Maria, trotzdem sie wohl kaum eine halbe
Stunde von ihrer Wohnung fern gewesen sein konnte,
ihre Magd: „War er da? Hat Jemand nach mir ge-
fragt?"
„Nein, Madame!" antwortete das Mädchen, und
Frau Maria trat mit einer gewissen geduldigen Re-
signation in ihren Salon.
„Bringe uns das Frühstück," befahl sie ihrem
Mädchen.
„Sie erwarten also noch Jemand?" fragte Alfossi.
„Weshalb denn nicht?"
„Einen Mann? Darf man fragen, wer der Glück-
liche ist, den Sie mit solcher Ungeduld erwarten?"
fragte Alfossi mit einem etwas nüchternen und ent-
täuschten Lächeln. Frau Maria sah es und lächelte
ebenfalls.
„Sie sind ein Kind, Cavaliere," antwortete sie.
„Wen soll ich sonst erwarten, als Severo?"
„Ah," machte er erstaunt. „Sie machen also Fort-
schritte ?"
„Alle Welt macht Fortschritte, Cavaliere."
„Es wird auch Zeit," murmelte dieser zerstreut.
„Weshalb?"
Er zögerte etwas.
„Nun?" fragte sie noch einmal.
„Mein Gott', wenn man ein Accept von dreißig-
tausend Lire besitzt, so will man gelegentlich auch ein-
mal das Geld dafür haben. Ich bin kein d'Artignano,
Maria, und das Leben in Nom kostet Geld. Das
wissen Sie ja wohl."
M 4.
mit größter Gleichgiltigkeit aus ihr verschwunden
wäre, gleichviel wohin, wenn das auf eine nicht gar
zu unangenehme Weise hätte geschehen können, oder wo
er in stumpfer Verzweiflung, in seiner elenden Ver-
kommenheit den ersten Besten todtgeschlagen hätte, um
selbst zu leben, wenn sich die Gelegenheit dazu geboten.
Sein Schicksal — nicht sein Wille, sondern jene
unsichtbare Macht, die bald erhaltend und schonend,
bald verhüngnißvoll in das Leben der Menschen hinein-
greift — hatte ihn zum Glück vor dem Aeußersten be-
wahrt. Zoppo war nicht schlecht und auch nicht dumm.
Er stammte sogar aus einer anständigen, jetzt aller-
dings bis auf ihn selber ausgestorbenen Familie, war
in die Schule gegangen und hatte Allerlei gelernt, aber
von Jugend auf konnte er das verdammte Weintrinken
nicht lassen. Er trank zuviel oder vielmehr: er konnte
zu wenig vertragen, ums aus dasselbe hinausläuft. So
war es gekommen, daß er in der tollen, rücksichtslosen
Jagd, die das Erwerbsleben in Italien ist, immer und
immer wieder zu Boden gesunken war, bis er sich end-
lich, alt und gebrechlich, nicht mehr davon erheben konnte.
So ivar er ein Bettler geworden, ein Kollege jener
ungezählten Tausende, die in Italien auf Straßen und
Plätzen, an Kirchen und Palästen herumlungern und
warten, ob die Wohlthätigkeit der Menschen ihr Leben
noch einen Tag fristen wird oder nicht. Zoppo hatte
..die Hand des Schicksals schwer auf sich gefühlt, aber
das Gräßlichste von Allem ivar ihn: gewesen, wenn er
selbst fühlte, ivie er demoralisirt wurde, so daß er zu-
letzt in dumpfer und stumpfer Verzweiflung gleichgiltig
gegen Verbrechen, gegen Mord und Todtschlag geworden
war.
Nur das nicht wieder! So lautete das kurze, aber
aufrichtige Gebet, das Zoppo Stunde um Stunde zum
Himmel schickte. Sein Wunsch war, einmal wieder
in Besitz einiger Lire zu kommen, um sich damit einen
bescheidenen, aber regelmäßigen Verdienst zu schaffen,
sei es als Zeitungsträger, als Stiefelputzer, wie sie auf
allen Plätzen und Straßen mit ihren Wichsküsten herum-
hocken, oder als Wasserverküufer, Melonenhändler oder
dergleichen. Man sieht — ehrgeizig ivar Zoppo nicht.
„Was zum Henker hast Du dort auf dem Stein zu
thun!" fuhr ihn plötzlich eine rauhe, barsche Stimme an.
Zoppo fuhr erschrocken aus seinen Zukunststräume-
reien auf und sah den Herrn vor sich stehen, auf den
er wartete.
„Gnädiger Herr —" stotterte er erschrocken.
„Herunter mit Dir. Tritt mit mir in's Haus herein.
Bist Du toll geworden, Dich am Hellen, lichten Tag
vor den Eingang des Palastes d'Artignano zu setzen,
damit alle Welt meint, Du hättest hier irgend etivas zu
thun? Daß das nicht wieder vorkommt! Hörst Du?
Ich will nicht, daß Du hier von irgend Jemand ge-
sehen wirst, und wenn Du uns eine Mittheilung zu
machen hast, so kommst Du zu mir, in meine Woh-
nung, die Du ja weißt."
Während dieser Worte war Zoppo eilig von seinen:
stolzen Sitz heruntergeklettert und dem Rechtsanwalt
gefolgt, der ihn in die Portierloge führte, einem kleinen
Raum mit verhängter Glasthür, wo sie unbeobachtet
waren.
„Und nun höre mir zu, was ich Dir zu sagen habe,"
fuhr Don Pasquale fort, „Du hast vorhin behauptet,
Du würdest den Mann, der auf den jungen Grafen
geschossen hat, wiedererkennen, wenn Du ihn siehst.
War es nicht so?"
„Jawohl, gnädiger Herr. Ich werde ihn bestimmt
wiedererkennen, wenn ich ihn sehe," antwortete Zoppo.
„Nun gut. Du hast ja den ganzen Tag nichts zu
thun. Du sollst also den Mann in Rom suchen. Ver-
stehst Du?"
„Das wohl, aber wo soll ich den Mann in der
großen Stadt finden?"
„Das ist Deine Sache. Höre weiter! Ich habe
jetzt mit Francesco gesprochen. Du kannst jeden Abend,
wenn es finster ist und Dich Niemand sieht, hierher-
kommen und Dir etwas zu essen geben lassen. Aber
Du mußt den ganzen Tag suchen. Wenn Du ihn
findest und mir so nnchweisest, daß ich ihn verhaften
lassen kann, so erhältst Du eine Belohnung von drei-
hundert Lire. Hast Du verstanden?"
„Naäonna Lantismwa! So etwas versteht man
schon, gnädiger Herr."
„Nun also, so geh' Deiner Wege. Aber glaube
ja nicht, Du könntest uns betrügen und uns irgend
einen Beliebigen als den Attentäter bringen. Du be-
kommst Deine Belohnung erst, wenn es sich heraus-
gestellt hat, daß Du uns wirklich den richtigen bezeich-
net-hast. Eher nicht einen Soldo!"
„Gnädiger Herr, Sie können sich auf mich ver-
lassen. Ich will nicht ruhen bei Tag und Nacht und
ganz Rom von hinten bis vorn durchsuchen nach dem
Manne, um mir das viele Geld zu verdienen. Aber
wenn nun der Mann überhaupt nicht mehr in Rom
ist?"
„Das ist Dein Pech. Dann hast Du ja immer für
Deine Arbeit Dein Essen. Aber nur werden auch in
diesem Falle schon einig werden. An einigen Lire, um
Das Buch f ü r A l l e.
Deinen Eifer und Spürsinn aufzufrischen, soll es ge-
legentlich nicht fehlen. Und nun geh'! Mach' Dich auf
die Beine."
Zoppo humpelte davon, froh, endlich einmal wieder
eine Beschäftigung zu haben, so sonderbar diese auch
war.
Don Pasquale Sansom war ein geschickter und in-
folge dessen auch stark beschäftigter Rechtsanwalt. Kaum
hatte er den Zoppo abgefertigt, als ihn auch schon seine
Pflicht weiterrief. Er verließ daher rasch den Palazzo
d'Artignano, nahm an der nächsten Haltestelle einen
Miethwagen und fuhr nach dem Tribunal. Obgleich
nun der Termin, den abzuhalten er vorhatte, durchaus
nicht mit der Angelegenheit des Grafen d'Artignano
in Verbindung stand, so wurde er doch die Gedanken
an diese auf dem ganzen Weg nicht los. Wie es seine
Gepflogenheit war, überlegte er, ob das, was er eben
gethan hatte, auch richtig war und was etwa noch zur
Vervollständigung seiner Pläne geschehen konnte.
Als alter Anwalt der Familie d'Artignano kannte
er wie kein Anderer alle ihre Beziehungen und begriff
infolge dessen sehr wohl, daß es dem Grasen Tito
weniger darauf nnkommen konnte, den Attentäter seines
Sohnes mit einigen Jahren Galeere bestraft zu wissen
— natürlich wenn man ihn erst hatte — sondern viel-
mehr darauf, zu wissen, wer dem Verbrecher die Waffe
gegen Alessandro in die Hand gedrückt habe. Er theilte
in dieser Hinsicht die Meinung des Grafen Tito, daß
man es in den: Schlitzen nicht mit einem selbstständig
handelnden Manne, sondern eher mit einem bestochenen
Individuum zu thun habe, mit dem Werkzeug Je-
mandes, der es auf das Leben des jungen Grasen
abgesehen hatte. Daß das aber seine frühere Gemahlin
sein sollte, war eine ganz leere Vermuthung, die aller-
dings durch die Situation der Familie einige Wahr-
scheinlichkeit erhielt, im klebrigen aber durch nichts zu
beweisen war. Wenn es nun Zoppo gelang, den
Schützen ausfindig und dingfest zu machen, so konnte
man wohl hoffen, durch ihn den Sachverhalt zu er-
fahren und die drohende Gefahr, ii: der sich Alessandro
trotz des vorläufig mißglückten Attentates befand, zu
beseitigen.
Don Pasquale hatte den: Kutscher seines Wagens
ein Trinkgeld versprochen, wenn er ihn so rasch wie
möglich nach den: Tribunal brächte, und dieser fuhr
nun wie toll darauf los. Don Pasquale sah in Ge-
danken versunken zum Wagenfenster hinaus, als er plötz-
lich aufmerksam wurde und einen Kneifer aufsetzte, da
er etivas kurzsichtig war. Sein Zweck war, eine Dame
besser zu sehen, die an den neuen Quaibauten des
Tibers bei einem Manne stand, der einen großen
Kasten auf den: Rücken trug. Die Frau war eine
hohe, imposante Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet und
tief verschleiert.
„Bei Gott, ganz die Gestalt der Maria Sondrini,"
murmelte Don Pasquale vor sich hin und wollte aus
dem Wagen herausspringen. Aber der Kutscher raste
wie toll über das Pflaster dahin, und dann überlegte
Don Pasquale auch, daß es ja ganz unnütz sei, das
zu konstatiren. Denn wenn diese Frau, wie Graf Tito
hestimmt wußte, nicht mehr in Florenz ivar, wo sie
all' die Jahre her gelebt hatte, so war ja allerdings
hundert gegen eins zu wetten, daß sie nach Rom zurück-
gekommen sei.
Was konnte es ihm also nützen, unter Versüumniß
einer viel wichtigeren Sache etwas festzustellen, was ja
ohnehin so gut nne sicher war?
Er nmr schon ziemlich iveit von jener Stelle ent-
fernt, als ihn wieder der Gedanke beunruhigte, wer
wohl der Mann gewesen sei, mit dem die Dame sprach,
und als er endlich nach der raschen Fahrt vor dem
Justizpalaste ankam, that es ihm doch leid, vorhin nicht
ausgeftiegen zu sein und die Sachlage genau geprüft
zu haben. Wer weiß, was er Alles dabei gefunden
hätte. Hatte er sich getäuscht, so wäre er wenigstens
beruhigt gewesen. Er verwünschte die Eile des Kut-
schers, der doch nur auf sein Geheiß so rasch gefahren
war.
Aber es war nun zu spät und er trat in das Ge-
bäude ein.
Maria Sondrini war bisher während ihres ganzen
römischen Aufenthaltes noch nicht ein einziges Mal bei
Tag ausgegangen. Sie war in Rom als frühere Schau-
spielerin und spätere Gräfin d'Artignano in den ent-
sprechenden Kreisen natürlich sehr bekannt, und nun war
es ihr peinlich, in ihrer nichts weniger als glänzenden
Lage von früheren Bekannten gesehen zu werden. Und
jetzt, wo sie es zum ersten Male gewagt hatte, sich —
unaufschiebbarer Geschäfte halber — am Tage zu zeigen,
hatte sie auch gleich bemerken müssen, wie gefährlich
das für sie war.
Ihr scharfes Auge hatte in dem Herrn, der sich aus
dem Wagen herausbog, um sie zu fixiren, sofort den
Advokaten des Grafen Tito erkannt. Nur ihrer Geistes-
gegenwart war es zu danken, daß sie sich rasch ab-
wandte, damit er sie nicht auch erkenne. Sie hatte
gute:: Grund, gerade diesem Herrn aus den: Wege zu
gehen, denn wenn er ihr wegen ihrer Abreise von Flo-
renz den Prozeß machte, so konnte sie — wenigstens
zeitweilig — ihrer Pension verlustig gehen, und das
wollte sie denn doch vermeiden. Wenn sie nun auch
glaubte, daß man ihr gegenüber nicht ohne Weiteres
zum Aeußersten schreiten werde, denn sie wußte wohl,
daß man im Palazzo d'Artignano noch immer einen
gewissen Respekt vor ihr hatte, so wollte sie doch jeden
Anlaß zu frühzeitigen Weiterungen vermeiden, in dem
richtigen Vorgefühl, daß die Differenzen für die Zu-
kunft doch nicht ausbleiben würden.
Rasch, weder rechts noch links sehend, ging sie über
die Engelsbrücke hinüber, um nach ihrer Wohnung jen-
seits des Tibers zurückzukehren.
„Signora Maria!" hörte sie sich plötzlich angerufen.
Sie wandte sich überrascht um und athmete etwas
erleichtert auf, als sie in den: Rufer den Cavaliere
Alfossi erkannte.
„Ah, Sie sind es?" erwiederte sie.
„So leichtsinnig, Maria?" fragte Alfossi wie scher-
zend, „oder hatten Sie wirklich so wichtige Geschäfte,
daß Sie nicht bis zum Abend warten konnten?"
„Wohin wollen Sie, Cavaliere?" fragte sie statt
aller Antwort.
„Hm, eigentlich wollte ich wissen, woher Sie kamen.
Aber damit Sie sehen, Gnädigste, wie wenig neugierig
ich bin, und wie sehr ich Ihnen vertraue, will ich
Ihnen mittheilen, daß ich dort drüben meinen guten
Freund, den toskanischen Messerhändler aufsuchen
wollte —"
„Haben Sie solche Freunde?"
„Eine Menge! Der Spitzbube hat mir neulich eine
falsche Fünflirenote ausgeschwindelt, die ich ihm zurück-
geben wollte. Ich habe an solchem Papiergeld keinen
Bedarf."
Frau Maria machte eine eigentümliche, vertraulich-
liebenswürdige Bewegung mit dem Arm.
„Geben Sie mir Ihren Arn:, Cavaliere. — Sie,
mit Ihrem falschen Fünflireschein! Der arme Teufel
wird Ihnen nicht davon laufen. Kommen Sie, wollen
Sie nicht bei mir frühstücken? Ich habe mit Ihnen zu
reden."
Die Art und Weise, wie sie diese kurzen, ab-
gerissenen Sätze hervorbrachte, war geradezu hinreißend;
man erkannte daran die frühere Schauspielerin. Frau
Maria war noch immer, trotz ihrer fünfundvierzig
Jahre, eine schöne Frau, und wenn sie wollte, so konnte
sie wohl noch einen Mann entzücken. Und jetzt wollte
sie es offenbar.
Cavaliere Alfossi war auch in der That entzückt
von ihr. Diese kurze, selbstverständliche Vertraulichkeit
stand ihr reizend.
„Meine Gnädigste, ich stehe Ihnen selbstverständ-
lich zur Verfügung," antwortete er galant, „selbst auf
die Gefahr hin, meinen Mefserhändler und meine fünf
Lire in diesem Leben nie wieder zu sehen."
„Bah! Sie können ihn ja jeden Tag dort drüben
treffen."
„Woher wissen Sie denn das?"
„Mein Gott, ich kann mit dem Operngucker von
meiner Wohnung aus den ganzen Quai übersehen.
Warum sollte ich nicht wissens daß der Messerhändler
seit einigen Tagen stets zu bestimmten Stunden dort
seine Waaren feil hält?"
Er sagte nichts, und sie hatte offenbar Eile, vor-
wärts zu -kommen. Wenige Minuten später waren
sie in ihrer Wohnung. Mit einer auffallenden Haft
fragte Frau Maria, trotzdem sie wohl kaum eine halbe
Stunde von ihrer Wohnung fern gewesen sein konnte,
ihre Magd: „War er da? Hat Jemand nach mir ge-
fragt?"
„Nein, Madame!" antwortete das Mädchen, und
Frau Maria trat mit einer gewissen geduldigen Re-
signation in ihren Salon.
„Bringe uns das Frühstück," befahl sie ihrem
Mädchen.
„Sie erwarten also noch Jemand?" fragte Alfossi.
„Weshalb denn nicht?"
„Einen Mann? Darf man fragen, wer der Glück-
liche ist, den Sie mit solcher Ungeduld erwarten?"
fragte Alfossi mit einem etwas nüchternen und ent-
täuschten Lächeln. Frau Maria sah es und lächelte
ebenfalls.
„Sie sind ein Kind, Cavaliere," antwortete sie.
„Wen soll ich sonst erwarten, als Severo?"
„Ah," machte er erstaunt. „Sie machen also Fort-
schritte ?"
„Alle Welt macht Fortschritte, Cavaliere."
„Es wird auch Zeit," murmelte dieser zerstreut.
„Weshalb?"
Er zögerte etwas.
„Nun?" fragte sie noch einmal.
„Mein Gott', wenn man ein Accept von dreißig-
tausend Lire besitzt, so will man gelegentlich auch ein-
mal das Geld dafür haben. Ich bin kein d'Artignano,
Maria, und das Leben in Nom kostet Geld. Das
wissen Sie ja wohl."