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110

© 1 —

Heſt 5.

Franzoſen mochten ahnen, um was es ſich bei St. Privat
handelte. Sie kämpften um ihre Haut. Mit dieſer
Stellung entſchied ſich ihr Schickſal. Ein wahrer Hagel
von Geſchoſſen überſchüttete die Heranſtürmenden, und
rechts und links hörte der Hauptmann unaufhörlich die
Kugeln mit dem eigenthümlichen Geräuſch in den Erd-
boden ſchlagen, das dem Vorgang eine Aehnlichkeit mit
einem heftigen Schloßenwetter verlieh.

Wie bei Ste. Marie aux Chenes Dutzende fielen,
ſo fielen hier Hunderte in den tapferen Reihen. Mit
äußerſter Anſtrengung hielt Hauptmann Weinhold ſeine
Leute zuſammen, damit er wenigſtens den Reſt an's
Dorf heranbrachte. Erſchütternde Scenen paſſirten um
ihn her. Der Jüngere der beiden Brüder Häſſel fiel,
von einer Kugel in die linke Bruſt getroffen. Sein
Bruder ſprang herzu, rief ihn an und richtete ihn auf.

„Adieu, Adolph,“ flüſterte der Sterbende, „ſag's dem
Vater — ich — ich — ſterbe — für —“

Weiter kam er nicht Was er ſagen wollte, nahm
er als ewiges Geheimniß mit in die andere Welt.

„Es kann ſo ſchlimm nicht ſein,“ redete ihm ſein
Bruder beſtürzt zu, „komm, ſtütze Dich auf meine
Schulter. Ich lade Dich auf den Rücken und trage
Dich aus dem Getümmel.“


einen Schuß in's Bein, dann gleich darauf, faſt gleich-
zeitig einen anderen durch den Kopf. Körper auf Körper
fielen die beiden Brüder.

„Vorwärts! Marſch, marſch!“

Hauptmann Weinhold konnte ſich nicht aufhalten.
Nur flüchtig trat in ſeiner Phantaſie das Bild des
alten Mannes in der Heimath vor ihn, der mit Thränen
44 geſagt: „Die zwei Letzten! Ich habe keine
mehr!“

Etwa vier- oder fünfhundert Schritt vor dem Dorfe
wurde dem Lieutenant Dahlitz in demſelben Augenblick,
in dem er den Degen hochſchwingend und ſeinen Zug
anfeuernd vorwärts ſtürmte, die Hand zerſchmettert.
Die Heldenlaufbahn des „Stubenhockers“, für den man
ihn immer gehalten, war damit am Ende. Mit ihm
verſchwand der letzte Lieutenant im Bataillon. Müh-
ſam, zum Tode matt, ſchleppte er ſich nach einem Rain,
um zu ſterben. ;

„Vorwärts! Marſch, marſch!“ hörte er noch in der
Ferne ſchreien.

Das mar auch der Ort, wo Oberſt v. Craushaar
fiel — und wie Mancher noch. Ein Blutbad, wie es
vorher noch keine Schlacht, kein Auge geſehen! Und
es war das edelſte Blut, das hier floß, das Blut der
Tapferſten, das Blut der Treue.

Es begann bereits zu dunkeln, als man an das
Dorf heran gelangte, und wieder waren es die Garden,
die im Süden und Südoſten zuerſt in daſſelbe ein-
drangen. Sie hatten eben ſchon näher geſtanden. Aber
die Schreckensſcenen hörten damit noch nicht auf und
ſetzten ſich in fürchterlichſter Art noch bis zum völligen
Eintritt der Dunkelheit fort. Die erbitterten Soldaten,
deren Grimm und Wuth mit jedem Schritt, mit jedem
gefallenen Kameraden geſtiegen, überrafchten die Fran-
zoſen noch, wie ſie hinter den Mauern, in die ſie Schieß-
ſcharten gemacht, liegend, auf die Nachdrängenden
ſchoſſen. Da wurde kein Pardon mehr gegeben und
gefordert. Mit dem Kolben ſchlug man die Leute todt.
Haus für Haus mußte wie eine Feſtung genommen
werden, und wurde auch ſo vertheidigt. Die Pionniere
durchſchlugen die Wände der aneinanderſtoßenden Ge-
bäude, und wehe denen, die man mit den Waffen in
der Hand überraſchte. In St. Privat wurden ver-
hältnißmäßig wenig Gefangene gemacht! Dieſe einfache
Thatſache zeugt genugſam für die Erbitterung und
Wuth, mit der die Truppen ſich gegenüberſtanden.

Die fliegenden Sanitätskolonnen thaten das Menſchen-
mögliche, aber was waren ſo Wenige für ſo Viele?
Was waren die paar Dutzend Aerzte bei den Tauſen-
den von Verwundeten und Sterbenden, die ihrer harrten?

Ohne Waffen, ohne Schutz für den eigenen Körper
liefen ſie bis in's dichteſte Gewühl, und auch Mancher
von ihnen wurde ein Opfer ſeiner Pflicht.
Im Dunkelwerden fand Aſſiſtenzarzt Hendrich den
jungen Dahlitz, halb ohnmächtig vor Schmerz und Blut-
verluſt auf dem Felde ſitzen.

„Wo fehlt's, Herr Lieutenant?“ rief er ihn an.

Er hatte die Hand, oder vielmehr das, was ſeine
Hand bisher geweſen, ſo gut er es vermocht, mit dem
Taſchentuch verbunden, aber das Blut quoll überall
durch und klebte am Rock, an der ganzen Uniform, im
Geſicht — überall.

„Es iſt vorbei! Laſſen Sie nur, Herr Doktor,“
entgegnete er matt. „Es ſind ſo viele Andere, denen
Sie nützlicher ſein können.“

„Laſſen Sie ſehen. Her damit. Was iſt's?“

Er „hing“ bekanntlich noch immer mit ſeinem Neben-
buhler. Aber mit keinem Gedanken dachte er jetzt daran.
Fetzt ſtand nur das große und ſchöne Wort „Pflicht“
in ſeinem Herzen, das allein die Menſchen adelt.

Als er ſeinen Gegner verband, tobte der Kampf
noch rings um ihn her. Jeden Augenblick hätte auch
ihn eine Kugel treffen können. Dann ſah er ſich Hilfe

ſuchend um, und als er keine fand, lud er ſelhſt den
Lieutenant auf ſeine Schultern und ſchleppte ihn mit
eigener Todesgefahr aus der Gefechtslinie. Wer konnte
wiſen, ob ihn nicht dieſelbe Hand, die er jetzt mit ſo
groͤßer Sorgfalt und Kunſt verband, einſt ſelbſt nieder-
ſtreckte? Er dachte an nichts, außer an ſeine Pflicht.

Da plötzlich fühlte er an der linken Seite in der
Herzgegend einen heftigen Schmerz, als wenn dort ein
ſtarker Druck, ein Anprall irgend eines harten Gegen-
ſtandes, der in das Fleiſch zu dringen ſchien, ſtatt-
gefunden habe. Was mar das? War er verwundet?
Tödtlich? Unwillkürlich faßte er mit der Hand nach
der Stelle, immer mit ſeiner Laſt auf dem Rücken
weitertrabend, um möglichſt aus der Feuerlinie heraus-
zukommen. Es war ein Loch da, und plötzlich fiel ihm
auch eine Kugel in die Hand. Er wunderte ſich, daß
er nicht zuſammenſtürzte! Er war getroffen, das fühlte
er, nur konnte er ſich in ſeiner Aufregung den Vorfall
nicht erklären. Erſt als er auf dem Verbandplatz an-
kam, unterſuchte er ſich genauer. Auf ſeiner Haut war
ein brauner, äußerſt ſchmerzhafter Fleck. Die Bruſt-
taſche des Rockes war durchſchoſſen, und die Medaille,
die ihm Leonore beim Abſchied gegeben hatte, ſo ver-
bogen, daß ſie faſt wie eine halbe hohle Kugel ausſah.
Nın errieth er Alles. Der Talisman hatte ihn gerettet,
ihn und auch den Lieutenant Dahlitz. Die feindliche
Kugel mar an ihm abgeprallt. Stumm hielt er einen
Augenblick die Kugel und die Münze in der Hand,
vervundert, erſtaunt über die wunderbare Fügung der
irdiſchen Dinge. Ohne den plötzlichen Einfall Leonorens,
den ihr vielleicht doch die Liebe eingegeben, war er jetzt
eine Leiche, ein kaltes, todtes, unempfindliches Ding,
das man in den nächſten Stunden wie etwas — Ver-
brauchtes, etwas, das ſeinen Zweck erfüllt hatte und
zu nichts mehr taugte, vergraben würde — Staub zu
Staub!

Aber er hatte keine Zeit, ſich in ſolchen Betrach-
tungen zu verlieren. Da lagen überall noch todkranke
Menſchen, die nach ihm riefen, ſchrien. Er ſteckte die
Kugel und die Münze — ſie paßten merkwürdig gut
ineinander — wieder ein und lief auf das Schlacht-
feld zurück, den Lieutenant Dahlitz der Pflege der Heil-
gehilfen überlaſſend.

Etwa um acht Uhr oder wenig ſpäter erreichte er
endlich das Dorf ſelbſt. Das Schießen, das den ganzen
Tag nicht aufgehört hatte, wurde ſchwächer und immer
ſchwächer, die Dunkelheit trennte die Kämpfer, aber
das Dorf war im unbeſtrittenen Beſitz der Deutſchen.
Was noch an Franzoſen in demſelben war, waren Ver-
ſprengte, Gefangene, Verwundete und Todte. Es ſah
fürchterlich aus. Von vielen Stellen lohten und leuch-
teten brennende Häuſer in die Straßen, die mit Todten
und Verwundeten, hin und her rennenden Soldaten,
die ihre Truppentheile, von denen ſie während des
Straßenkampfes getrennt worden, ſuchten, Waffen aller
Art, erbeuteten Kanonen, Trains, Helmen und Käppis,
Torniſtern, die man weggeworfen, überfüllt waren.

In den eroberten Zelten franzöſiſcher Offiziere mach-
ten es ſich die braven Sachſen und Garden bequem,
und die daſelbſt aufgeſpeicherten Vorräthe kamen den
bis zum Tod erſchöpften und verhungerten Truppen
ſehr gelegen. Es war unglaublich, was da Alles zum
Vorſchein kam. Abgeſehen von den ausgeſuchteſten Lecker-
biſſen, wie Gänſeleberpaſteten, großen Büchſen Caviar,
Oelſardinen, eingemachtem Fleiſch, theuren Weinen, die
natürlich unſeren Truppen, die durch das ewige Einerlei
von Erbswurſt und Speck auch nicht verwöhnt waren,
gewiß ebenſo gut ſchmeckten, wie ſie den Franzoſen
geſchmeckt haben würden, wurden da allerhand Toilette-


der Suche nach Brauchbarem ärgerlich hin und her
warfen. In einem Zelte wurden Unmaſſen weißer
Haͤndſchuhe gefunden, ſo daß ein Theil der Soldaten
plötzlich in weißen Handſchuhen erſchien, was zu ihrem
übrigen, durchaus nicht ballmäßigen, ſondern über und
über ſchmutzigen, vom Pulverdampf geſchwärzten, zottigen
Aeußeren ſeltſam kontraſtirte. Ein unbeſchreibliches
Durcheinander von Wildheit, die um die erſten, uner-
bittlichſten Lebensbedürfniſſe, um Eſſen und Trinken
und Schlaf rang, und unbeſieglicher Laune Derer, die
dieſe Bedürfniſſe eben befriedigt, oder nicht empfanden.
Dazu kam ein gewiſſer Zerſtörungswahn, eine verächt-
liche Wuth unſerer Soldaten gegenüber von allem
Tand und Plunder, den ſie für unnütz anſahen, was
ſich aber wieder durch die unſäglichen Strapazen, die
ſie ausgeſtanden, und die bitteren Opfer, die der Sieg
gekoſtet, erklärte. Was that denn ſchließlich ein Soldat,
der mit vertrockneter Kehle und zitternd vor Durſt
glaubte, eine Flaſche Wein entdeckt zu haben und dann
enttäuſcht ein zuſammengerolltes Schnürleibchen in der
Hand hielt? Oder ein Anderer, der nach Brod oder
irgend etwas Eßbarem ſuchte und eine Büchſe mit Bart-
wichſe fand?

„Stock! Stock!“ rief Max Hendrich plötzlich einem
Menſchen zu, der, bis zur Unkenntlichkeit beſtaubt und
im Geſicht mit ſchwärzlicher Kruſte überzogen, eine
Pickelhaube, an der die Spitze fehlte und die ganz mit
Beulen bedeckt war, auf dem Kopfe, an einer Mauer

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lehnte und halb im Schlaf an einer dürren Brodrinde
kaute.

„Donnerwetter, biſt Du's, Stock, oder iſt es Dein
Geiſt?“

Stock wachte auf und ſah ihn an.

„Schluck? Schluck, guter Schluck,“ bat er dann wehs -
müthig, „ich gebe Dir meines Vaters ganze Brauerei
für einen einzigen Schluck Waſſer oder Wein. Ganz
gleich, was es iſt, wenn es nur naß iſt.“

Max zog eilig ſeine Cognakflaſche vor.

„Hier! Wo iſt Dein Bataillon?“

Gierig trank Stock aus der Flaſche. Dann wies
er mit der Hand neben ſich, wo etwa dreißig bis vierzig
Soldaten ſtaͤnden, die ein Feldwebel zuſammengetrieben
hatte.

„Da ſteht's!“ ſagte er kurz.

Mar überlief es eiſig kalt.

„Das iſt Alles?“ fragte er tonlos.

„Vielleicht werden noch ein paar heranhinken,
wundern ſoll es mich aber auch nicht, wenn es nicht ge-
ſchieht. Es war zu gräßlich.“

„Und — und wo iſt mein Onkel?“ fragte Max
zitternd.

Todt!“

„Todt?“ wiederholte Mar entſetzt.

„Ich ſah ihn fallen. Es war gleich bei den erſten
Häuſern, als wir das Dorf erreichten. Er drehte ſich
eben nach uns um, um uns noch einmal zur letzten
Anſtrengung anzufeuern und zuſammenzurufen — dabei
muß ihn ſo ein verdammter Schuft aus irgend einem
Hauſe heraus auf's Korn genommen haben. Plöß,zlich
ſank er zuſammen und blieb liegen. Einige unſerer
Leute hoben ihn auf und trugen ihn in eine Hausthür —
weiter weiß ich auch nichts.“

„Wo — wo war das,
Thränen im Auge.

„Dort, dieſe Straße hinaus, dann rechts das dritte
oder vierte Haus von draußen. Dort wirſt Du ihn
finden.“

Ohne Weiteres ſtürmte Max davon in der an-
gegebenen Richtung. Es war finſter, und wenn auch
die dunkelroth gluͤhenden Feuersbrünſte die Straßen
flackernd und ungewiß erleuchteten, ſo war es doch
ſchwer, ſich in dem fremden Ort zuxechtzufinden. Auch
lagen ſo viele Gegenſtände und Körper herum, daß
man nur langſam vorwärts kam. Pferdeleiber, Karren,
Leichen ſperrten die Paſſage, Mauertheile, die die
Granaten zerriſſen und umhergeſtreut, lagen da, auch

Stock?“ fragte Max mit


oder zerſchoſſener Häuſer zuſammen und machte die
Straßen gefährlich.

In einem der von Stock bezeichneten Häuſer ſah er
plötzlich den Oberſtabsarzt Schurich, der vor einem
Offizier in der Uniform des „ſchönſten Regiments“,
kniete und ihn unterſuchte. War es ſein Onkel? War
es Hauptmann Weinhold?

Das Bild Leonorens trat ihm vor die Seele, wie ſie
zitternd und in Todesangſt zu Hauſe ſaß, in ahnender
Schwermuth um das Leben ihrer Lieben bangend!
War er todt? Wirklich todt? In einer wahnſinnigen
Haſt ſtürzte er auf die Gruppe zu. —

„Schuß in den Rücken,“ murmelte der Oberſtabsarzt
halblaut zu einem der Krankenträger. „Nichts zu machen
Wahrſcheinlich Rückenmarksverletzung Ueben Sie alle
Vorſicht. Vielleicht bringen Sie ihn noch bis in's
Lazareth.“

Der Hund des Hauptmanns Weinhold ſprang auf,
leckte dem heraneilenden Aſſiſtenten die Hände und
winſelte leiſe, als wolle er auf die höchſte Noth des
Verwundeten aufmerkſam machen und zu ſeiner Hilfe
auffordern.

„Onkel!“ ſchrie Mar laut und zitternd, „Onfkel!“

Der Kranke ſchlug bei der Stimme ſeines Neffen
die Augen langſam und ſchwerfällig auf. Ein todes-
matter Blick fiel auf ihn.

„Das iſt Ihr Onkel?“ fragte Oberſtabsarzt Schurich.
„Nur keine Scenen. Sie wiſſen, ich kann das nicht
leiden. Nur keine Aufregung. In's Lazareth mit ihm
und ſo raſch wie möglich. Von der Rührſeligkeit wird
kein Menſch geſund. Vorwärts, weiter.“

„Ich darf wohl den Hauptmann ſelbſt in's Lazareth
überführen, Herr Oberſtabsarzt?“ fragte Max Haftia.

„Natürlich Halten Sie ſich aber nicht ünnöthig
dabei auf.- Verſtanden? Und machen Sie ſich über-
haupt auf eine ſchlafloſe Nacht gefaßt. Ich habe nie
ſo etwas geſehen bis auf dieſen Tag. Alle Häuſer
liegen voller Verwundeter, und noch immer werden ſie
von den Feldern aufgeleſen und hereingebracht. Alſo
vorwärts! Wenn nur erſt dieſe Nacht vorbei wäre!
Wie geſagt, machen Sie ſich auf eine Nacht voll Auf-
regung und Arbeit gefaßt. Wie das Morgen wird,
weiß Gott. Heute aber iſt es ſchrecklich.“

Er lief weiter. Zum Glück war eine Tragbaͤhre
mit zwei Krankenträgern vorhanden, die er ſeinem!
Aſſiſtenten zurücließ. Auf dieſe wurde Hauptmann
Weinhold mit aller Vorſicht gelegt und fortgetragen.
Der Oberſtabsarzt ſchien ihn ſchon aufgegeben zu *
ſein Neffe hatte ihn gar nicht unterfucht. Er wollte
 
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