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— KEBEEFTTE

— — —

Heft 19.

Jahrg. 1896.

Geachkel.

Roman

von

Lothar Brenkendorf.

(Fortſetzung)

Nachdruck verboten.)
in Theil jener adeligen Familien, die von
($) Friedrich Wilhelm I. zur Belohnung für
‘ irgend welche Verdienſte mit Domänen in
Litauen beſchenkt worden
waren, hatte durch den Krieg
und durch die unſeligen
Münzverhältniſſe, die ſich in
ſeinem Gefolge herausgebil-
det, ſo ſchwere Vermögenseinbußen er-
litten, daß von neuen Opfern ungeach-
tet aller patriotiſchen Geſinnung nicht
mehr die Rede ſein konnte. Dieſe Be-
dauernswerthen ließen ihre unter den
gegenwärtigen Umſtänden für ſie ohne-
dies werthloſen Beſitzungen lieber im
Stich, als daß ſie ſich und ihre An-
gehörigen einem höchſt ungewiſſen Schick-
Jal überlieferten. Die Wohlhabenden
aber leiſteten mehr oder weniger wider-
willig dem Machtwort des Königs Folge
und machten durch ihre Rückkehr die 10
lange verwaisten Güter zu willkomme-
nen Zufluchtsſtätten für jene ehemals
ſelbſtſtändigen Bauern, die jetzt glücklich
waren, um geringen Lohn als Knechte
arbeiten zu dürfen und ſo wenigſtens
dem langſamen Hungertode zu entrinnen.
Der erſte Winter war allerdings für
alle Betheiligten noch ſchwer und ent-
behrungsreich genug. Im Frühling des
Jahres 1764 aber ging man doch ſchon
beſſeren Muthes an die Arbeit, und in-
mitten der öden Wüſteneien zeigten ſich
wenigſtens hier und da ſorgfältig be-
ſtellte Felder.

An einem dieſer erſten linden Früh-
lingstage traf Eliſabeth v. Marſchall
nach langer und beſchwerlicher Reiſe
auf oft kaum paſſirbaren Wegen in
Lasdehnen ein. Wie Charlotte es ſo
zuverſichtlich vorausgeſagt, mar Frau
v. Menzelius nicht einen Augenblick
darüber in Zweifel geweſen, daß ſie ihre
tapfere Nichte begleiten müſſe, ſobald ſie
Eliſabeth's Entſchluß als einen uner-
ſchütterlichen erkannt hatte. Nur die
alte, halbblinde Sophie hatte man gut
verſorgt zurückgelaſſen, um ſich in Be-
gleitung einer neu engagirten Jungfer
und eines zuverläſſigen Dieners auf die


mühſelige, bei den damaligen Zeitverhältniſſen keines-
wegs gefahrloſe Reiſe nach dem entlegenſten Winkel-
der Monarchie zu begeben.

Ohne mancherlei bedenkliche Abenteuer und auf-
regende Zwiſchenfälle war es denn auch keineswegs ab-
gegangen. Eliſabeth's Klugheit und Entſchloſſenheit aber,
ihre vornehme, imponixrende Erſcheinung und ihr ſicheres
Auftreten hatte jede Faͤhrlichkeit ſiegreich überwunden.
Ihre immer gleiche Ruhe, der heitere Gleichmuth, den
ſie allen Strapazen und Hinderniſſen gegenüber be-
bewahrte, hatten ſowohl auf die ängſtliche Verzagtheit
der Frau v. Menzelius als auf Charlottens launenhaͤfte
Ungeduld überaus wohlthätig eingewirkt, und namentlich
die kleine, korpulente Wittwe befand ſich auf der letzten
Strecke ihres Weges beſtändig in einem gewiſſen freu-

a


digen Erſtaunen, daß ſie wider alle Erwartung dieſe
„Todesfahrt“ recht munter und wohlbehalten über-
ſtanden.

Gerade auf dieſer letzten Wegſtrecke aber wurde
Eliſabeth v. Marſchall ſtiller und ernſter, als ſie es
während der vorhergegangenen Tage geweſen war. Sie
hatte ſich als halb erwaͤchſenes Mädchen einige Zeit
mit ihren Eltern in Lasdehnen aufgehalten, und das
Bild der blühenden, fruchtbaren Gefilde, durch die ſie
damals gefahren war, ſtand noch ſo deutlich vor ihrer
Seele, daß die grauenhafte Veränderung ſie wohl traurig
und ſchweigſam machen mußte. Was man ihr auch
immer über den ſchrecklichen Zuſtand des Landes be-
richtet hatte, hinter dieſer troſtloſen Wirklichkeit blieben
doch ſelbſt ihre düſterſten Vorſtellungen noch weit
zurück. Und der Anblick der Landſchaft
wurde immer trübſeliger, je näher ſie
ihrer eigenen, hart an der ruſſiſchen
Grenze gelegenen Beſitzung kam.

Von bebauten Aeckern und Wieſen
zeigte ſich nirgends eine Spur; aber
hier und da bezeichneten rauchgeſchwärzte
Trümmerhaufen die Stätten, wo ſich
einſt die Niederlaſſungen friedlicher, ar-
beitſamer Menſchen befunden hatten.
Und wenn auch die Ueberreſte unbe-
ſtatteter Leichen nicht, wie Frau v. Men-
zelius es gefürchtet, zu Tauſenden um-
herlagen, ſo waren ſie doch ſchon mehr
als einmal auf einen nahe beim Wege
grinſenden Todtenſchädel, oder auf ein
von Wölfen und Aasvögeln ſorgfältig
abgenagtes, ſchneeweiß glänzendes Thier-
gerippe geſtoßen.

Einzig den herrlichen litauiſchen
Wäldern hatten die Greuel des Krieges
nichts von ihrer Pracht und ernſten
Majeſtät zu rauben vermocht. Ja, ſie
waren nur großartiger, üppiger und
wilder geworden in dieſen ſieben Jah-
ren, wo keines Holzfällers Axt mehr in
ihnen erklungen wars Das Unterholz
hatte ſich faſt überall zu undurchdring-
lichem Dickicht entwickelt, und es gab
weite Strecken, wo man ſich ohne alle
Zuhilfenahme phantaſtiſcher Vorſtellun-
gen in einen Urwald verſetzt glauben
konnte. Das Wild ſchien ſich in's
Unermeßliche vermehrt und alle Scheu
vor dem Menſchen abgelegt zu haben;
denn rudelweiſe traten Hirſche und
Rehe bei dem Geräuſch der Wagen-
räder zwiſchen den Stämmen hervor,
um mit größen, neugierigen Augen die
unbekannle Erſcheinung der ſchwerfälli-
gen Reiſekutſche zu betrachten. Zu den
alten Bewohnern des Waldes aber, die
ſich hier in ihrem natürlichen Revier
befanden, hatten ſich inzwiſchen neue
geſellt, die man ſonſt nimmer im Zu-
ſtande ungebundener Freiheit dort an-
getroffen.

Als die Reiſenden zum erſten Male
 
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