AIZ
ganz anderen Licht erschiene. Er gebrauchte nämlich
in der Unterhaltung mit mir Wendungen, die sich
wörtlich ebenso auch in dem anonymen Briefe finden.
Ich halte ihn fast mit Bestimmtheit für den Schreiber
dieses Briefes, und ich bitte Sie, in Ihrem Ge-
dächtnis zu suchen, ob nicht vielleicht
Ein Aufschrei aus Marthas Munde hinderte ihn,
zu vollenden. Sie starrte ihn mit weit geöffneten
Augen an und griff sich plötzlich mit beiden Händen
an die Schläfen. „Mein Gott, wie ist es nur mög-
lich, daß ich mich dessen nicht früher erinnert habe!
Ja, es ist, wie Sie vermuten. Kein anderer als
dieser unheimliche Mensch ist der Urheber meines
Unglücks."
„Sie haben einen bestimmten Anhalt dafür?
Etwas Tatsächliches, das dazu dienen könnte, ihn zn
überführen?"
„Ja, ja!" erzählte sie hastig. „Ich hatte vor
Wochen einmal beim Betreten des Hauses ein Buch
verloren, den ersten Band eines Romans, den er-
fand und mir am nächsten Tage ans der Straße
zurückgab. Er hatte ihn über Nacht gelesen und legte in
allerlei ziemlich unverständlichen Reden ein so großes
Interesse für den Inhalt an den Tag, daß ich mich ans
Erkenntlichkeit für den erwiesenen Dienst verpflichtet
glaubte, ihm auch den zweiten Band zur Lektüre
anzubieten. Ich ließ ihm das Buch durch meinen
Bruder znkommen und hatte über den schrecklichen
Aufregungen, die bald nachher ans mich einstürmten,
die unbedeutende Angelegenheit völlig vergessen, als
mir eines Mittags — es mag drei oder vier Tage
nach meiner Rückkehr von dem Gute gewesen sein —
das Dienstmädchen meiner Schwägerin meldete, der
Buchhalter Bartel sei da und wünsche mich zu sprechen.
Ich befand mich gerade in der Küche, und sie hatte
die Ungeschicklichkeit begangen, den fremden Menschen
in mein Zimmer eintreten zn lassen. Als ich die
Tür öffnete, glaubte ich deutlich zu sehen, daß er sich
an meinem Schreibtisch zn schaffen machte. Aber
ich war meiner Sache doch nicht so sicher, daß ich
ihn hätte zur Rede stellen können, zumal ich ja auch
an nichts Schlimmeres als an eine allerdings sehr-
unschickliche Neugier dachte. Er erklärte, daß er
gekommen sei, mir das geliehene Buch zurückzu-
bringen. Aber obwohl ich mich rechtschaffen bemühte,
den zudringlichen Menschen sogleich wieder loszu-
werden, konnte ich doch nicht verhindern, daß er mir
seine Teilnahme ausdrückte und mir seinen Beistand
zur Wiedererlangung meines kleinen Vermögens
anbot. Erst auf eine sehr deutliche Ablehnung hin
entschloß er sich, zu gehen. — Er muß der geheimnis-
volle Spender des Tausendmarkscheins gewesen sein,
denn ich erinnere mich genau, daß ich die Cchieblade
mit den Briefen während meiner kurzen Abwesenheit
nicht verschlossen hatte. — Aber dann —" diese
weitere Folgerung kam ihr erst jetzt in den Sinn —
„dann wäre er ja auch der Kassendieb gewesen."
„Er ist es," sagte Hermann Schröder sehr ernst,
„und er ist vielleicht noch etwas viel Schlimmeres
als das. Ich glaube, Fräulein Winter, wir sind
im Begriff, die Lösung des Rätsels zu finden. Aber
Sie müssen verzeihen, wenn ich mich jetzt keinen
Augenblick länger aufhalte, denn hier ist rasches
und energisches Handeln geboten."
Er reichte ihr die Hand und drückte auf den
Knopf des Telegraphen, der den Schließer benach-
richtigte. Mit der Gefangenen zugleich verließ er
das Zimmer und kehrte beflügelten Schrittes zu dem
Untersuchungsrichter zurück, von dem allein die er-
forderlichen Maßnahmen zur Verfolgung der aus-
gefundenen Fährte ausgehen konnten.
Einen ganzen Tag lang hatte Joseph Bartel den
Brief an den Staatsanwalt mit sich herumgetragcn,
ehe er den Mut sand, ihn in den Kasten zu werfen.
Aber fast schon in dem Augenblick, da er seinen
Händen entglitt, war ihm die Reue gekommen über-
fein allzu kühnes Beginnen. Das sehnsüchtige Ver-
langen, dem geliebten Mädchen einen Dienst zu er-
weisen und ihm vielleicht die Freiheit zu verschaffen,
hatten ihn dazu getrieben. Nun aber, als der Ge-
danke zur Tat geworden war, stellten sich seinem
Geiste die möglichen Folgen plötzlich in den schreck-
haftesten Bildern dar. Und wenn er ein Mittel
gewußt hätte, sich wieder in den Besitz seines Briefes
zu bringen, so würde er gewiß nicht gezögert haben,
sich seiner zn bedienen.
Umsonst wiederholte er sich immer aufs neue,
daß er ja mit äußerster Vorsicht zu Werke gegangen
war, daß niemand in dem ungelenken linkshändigen
Gekritzel seine Handschrift erkennen würde, und daß
weder das zum Schreiben benutzte Papier noch der
Briefumschlag ihm zu Verrätern werden konnten.
Die peinigende Angst, er könnte bei aller Behutsam-
keit etwas versehen haben, wollte ihn trotzdem nicht
verlassen. Er verbrachte eine schlaflose Nacht, in
der er sich unaufhörlich vorsagte, was er antworten
würde, wenn man ihn etwa um seine Kenntnis von
dem Briefe befragen sollte. Er war niemals müder
und zerschlagener an seine Arbeit gekommen als am
nächsten Morgen.
Im Laufe des Tages, als sich nichts Besorgnis-
erregendes ereignete, wurde erzwar etwas ruhiger; aber
die hereinbrechende Dämmerung, die von jeher seine
schlimmste Feindin gewesen war, ließ alle im Hellen
Tageslicht mehr und mehr verblaßten Schreckgestalten
in greifbarer Körperlichkeit wieder anfleben. Als er
nach Schluß der Vnreaustunden das Geschäftshaus
verließ, würde er sich um nichts iu der Welt ent-
schlossen haben, sogleich in die Einsamkeit seiner vier
Wände zurückzukehren.
Es war ein drückend schwüler Tag, und drohende
Gewitterwolken, die sich am westlichen Himmel zu-
sammenballten, hatten es ungewöhnlich früh dunkel
werden lassen. Hie und da zuckten bereits fahl-
bläuliche Blitze in der Wolkenwand ans, und das
dumpfe Grollen fernen Donners ließ sich vernehmen.
Zu den vielen gleichsam angeborenen Eigentüm-
lichkeiten Bartels aber zählte auch die hochgradige
nervöse Aufregung und Furcht, die sich seiner jedes-
mal schon geraume Zeit vor dein Ausbruch eiues
Gewitters bemächtigte, und die sich während des sür
die meisten anderen Menschen so gleichgültigen Natur-
ereignisses oft bis zn unerträglich qualvollen Zu-
ständen steigerte.
Heute zumal, wo seiu Nervensystem ohnedies bis
zu äußerster Empfindlichkeit gereizt war, glaubte er
in der schweren Gewitteratmosphäre vor Angst fast
vergehen zu müssen. Und er nahm seine Zuflucht
wieder zu jenem verzweifelten Mittel, das ihm
wenigstens für flüchtige Augenblicke Betäubung und
Vergessen verhieß.
In einen, erbärmlichen Chantant an der Schuh-
brücke, einem Vergnügungslokal allerniedrigster Art,
setzte er sich zu mehreren anderen, bereits stark ange-
heiterten Personen an den Tisch, und erwarb sich
durch seine Freigebigkeit das Recht, an ihrer Unter-
haltung teilzunehmeu.
Es war eine wüste und rohe Unterhaltung, wie
sie unter gewöhnlichen Verhältnissen seinem Geschmack
durchaus uicht entsprochen hätte. Heute aber trieb
er es fast noch ärger als die anderen, und forderte
durch die Menge der geistigen Getränke, die er in
wahllosem Durcheinander zn sich nahm, die Be-
wunderung seiner Zechkumpane heraus. Bald genug
stellte sich die unausbleibliche Wirkung dieser Un-
mäßigkeit ein. Er begann wirre, zusammenhanglose
Reden zu führen, und wurde händelsüchtig, als man
ihn zu verlachen und zu hänseln anfing. Als ihn
daraufhin der Wirt mit ziemlich unzweideutiger Ent-
schiedenheit ausforderte, das Lokal zn verlassen, mochte
ihm wohl eine dunkle Erinnerung an seine neulichen
unliebsamen Erlebnisse aufdämmern, denn er ließ
es diesmal nicht erst auf eine Gewaltanwendung
ankommen, sondern schwankte unter allerlei halb
unverständlichen Schmähungen ins Freie hinaus.
Das Gewitter, von dem er drinnen in dem lärm-
erfüllten Raume nur wenig wahrgenommen hatte,
schien eben jetzt seinen Höhepunkt erreicht zu haben.
Von Sekunde zu Sekunde wandelte sich die nächtliche
Dunkelheit in ein Meer von grünblauem Feuer, der
Donner krachte und knatterte, als stürzten unaufhör-
lich ganze Häuserreihen in sich zusammen, und ein
wolkenbruchartiger, mit großen Eisstücken unter-
mischter Regen rauschte auf die menschenleeren
Straßen nieder.
Schon nach den ersten zwanzig Schritten war
Bartel völlig durchnäßt. Aber er bemerkte es gar
nicht, denn der furchtbare Aufruhr der Elemente
dünkte ihn nichts anderes als der Donner des
jüngsten Gerichts. Die gräßliche Angst, die trotz des
Rausches wieder wie mit Geierkrallen seine Seele
gepackt hatte, raubte ihm auch den letzten Rest von
klarer Besinnung. Er stöhnte auf, so oft ein zackiger
Blitzstrahl vor ihm das Gewölk zerriß; seine Kniee
schlotterten, wenn der Donner zermalmend über ihn
dahinrollte, und mehr eine Äußerung tierischen
Instinkts als eine Folge klarer Überlegung war es,
wenn er trotz alledem seinen Heimweg fand.
In der Türnische des Hauses stand ein Mann,
der dort notdürftigen Schutz vor dem strömenden Regen
gesucht haben mochte. In sehr menschenfreundlicher
Weise war er dem Buchhalter behilflich, das Haus-
tor zu öffnen. Aber als er sich sogar bereit erklärte,
ihn hinaus zu geleiten, lehnte Bartel beinahe
heftig ab.
„Was denken Sie von mir?" lallte er. „Halten
Sie mich für betrunken? Oder glauben Sie, daß es
da oben etwas zu holen gibt?"
Der Mann drängte sich ihm nicht weiter auf,
und der Berauschte tastete sich mühsam über die
dunkle Stiege empor. Daß die Tür seines Zimmers
sich vor ihm auftat, während er noch nach dem
Schlüsselloch suchte, erschien ihm nicht besonders
verwunderlich. Er taumelte zum Tische und griff
auf der Platte umher, des Leuchters mit dem Feuer-
zeug habhaft zu werden. Da überflutete ein zuckender
Doppelblitz für den Bruchteil einer Sekunde das
kleine Gemach mit blendender Helle, und ein gellender
Aufschrei, der selbst das Geprassel des unmittelbar
folgenden Donners übertönte, kam aus Joseph Bartels
Kehle.
Unmittelbar vor sich, an der anderen Seite des
Tisches, hatte er eine hochaufgerichtete menschliche
Gestalt gesehen, und es gab für ihn keine Ungewiß-
heit, daß es die hagere Gestalt des toten Rendanten
gewesen sei.
„Gnade! -- Barmherzigkeit!" wimmerte er, in
die Kniee znsammengebrochcn. „Ich habe dich doch
nicht umgebracht."
Ein Griff an der verdeckten Blendlaterne, und
das fahle Gesicht des Buchhalters mit seinen hervor-
quellenden Augen und seinen verzerrten Zügen war
hell beleuchtet.
„Im Namen des Gesetzes, Bartel — Sie sind
verhaftet!" schlug eine tiefe Stimme, die allerdings
nicht die des Rendanten war, an sein Ohr. „Machen
Sie gefälligst keine Umstände; sonst würden wir
genötigt sein, Sie zu schließen."
Joseph Bartel aber war nicht in der Verfassung,
viele Umstände zu machen. Stumm und zitternd,
ein plötzlich ernüchterter, aber zugleich vollständig
gebrochener Mann, folgte er den beiden Beamten,
welche die Tür seines Zimmers hinter sich mit den
polizeilichen Papiersiegeln verklebten. Er war mit
einem Male so schwach und hinfällig geworden, daß
die beiden Männer, die ihn in die Mitte genommen
hatten, ihn mehr tragen als führen mußten. Aber-
fein Geist war wunderbarerweise jetzt ganz klar.
Und ohne daß er von ihnen gefragt worden wäre,
nur aus dem Verlangen heraus, die furchtbare Last
von seinem Herzen zu wälzen, erzählte er unterwegs
seinen Begleitern die ganze Geschichte seiner Schuld.
Sie hörten ihn ruhig an. Aber als er geendet,
sagte der Kriminalkommissar Neuburger sarkastisch:
„Ein hübsches Märchen, mein Lieber — gut aus-
gesonnen und vorgebracht. Schade nur, daß sich
schwerlich jemand finden wird, der daran glaubt.
Für heute nacht mag es gelten — morgen aber
werden wir uns doch eine andere Erklärung aus-
bitten, denn wir sind einigermaßen neugierig, zu
erfahren, wo Sie mit dem ansehnlichen Rest der
Bente geblieben sind und wo Sie die Leiche des er-
mordeten Winter versteckt haben. — Oder vielleicht
haben Sie in Ihrem eigenen Interesse die Güte,
es uns gleich jetzt zn sagen."
Aber seine Vermutung, daß von einem ordent-
lichen Verhör des Verhafteten für diese Nacht wohl
würde Abstand genommen werden müssen, erwies
sich als vollkommen zutreffend. Sobald man ihn in
den Aufnahmeraum geführt hatte, fiel Bartel wie
eine leblose Masse auf die Holzbank und starrte mit
leerem Blick vor sich hin auf die Dielen. Auf die
an ihn gerichteten Fragen hatte er keine Antwort
mehr, und das krampfartige Zittern, das von Zeit
zn Zeit seinen Körper überflog, ließ erkennen, daß
es sich hier nicht um geschickte Verstellung, sondern
um einen Zustand hochgradiger geistiger und körper-
licher Erschöpfung handle.
Willig ließ es der Unglückliche geschehen, daß
man ihn seiner durchnäßten Kleider entledigte. Aus
dem harten Lager der Gefängniszelle, deren Tür sich
sodann hinter ihm schloß, schien er bald in tiefen
Schlummer gesunken.
Ileunrelmts; Kapitel.
Ein herrlicher, sonniger Morgen war nach der
stürmischen Gewitternacht über der schlesischen Haupt-
stadt angebrochen. Nur die-großen Wasserlachen,
die noch hie und da in den Straßen standen, gaben
Kunde von dem entsetzlichen Unwetter, das so viele
um ihren Schlaf gebracht hatte. Das Laubwerk der
Bäume aber sah so frisch und verjüngt aus, als
befände man sich mitten im Frühling, die Groß-
stadtbewohner, die schon in früher Morgenstunde
an ihr Tagewerk gingen, schienen die erquickende
Abkühlung nach der drückenden Hitze der letzten Tage
als eine köstliche Wohltat zu empfinden.
Früher als sonst hatte Frau Hermine Winter sich
heute von ihrem Lager erhoben. Auch sie hatte in-
folge des stundenlang tobenden Gewitters eine nahezu
schlaflose Nacht verbracht, und sie war dadurch in
einen Zustand nervöser Unruhe versetzt worden, der
ihr das Stillliegen schließlich ganz unerträglich machte.
Sie kleidete sich an und ging in eines der nach der
Straße gelegenen Zimmer, um das Fenster zu öffneu
und in tiefen Atemzügen die würzige Morgenluft zu
trinken, die sich immer als ein gutes Beruhigungs-
mittel für ihre aufgeregten Nerven bewährt hatte.
Eine Droschke, die schwerfällig die Straße herauf-
kam, erregte ihre Aufmerksamkeit, und mit einem
Ausruf freudigster Überraschung neigte sie sich weit
zum Fenster hinaus, als sie den Insassen des jetzt
ganz anderen Licht erschiene. Er gebrauchte nämlich
in der Unterhaltung mit mir Wendungen, die sich
wörtlich ebenso auch in dem anonymen Briefe finden.
Ich halte ihn fast mit Bestimmtheit für den Schreiber
dieses Briefes, und ich bitte Sie, in Ihrem Ge-
dächtnis zu suchen, ob nicht vielleicht
Ein Aufschrei aus Marthas Munde hinderte ihn,
zu vollenden. Sie starrte ihn mit weit geöffneten
Augen an und griff sich plötzlich mit beiden Händen
an die Schläfen. „Mein Gott, wie ist es nur mög-
lich, daß ich mich dessen nicht früher erinnert habe!
Ja, es ist, wie Sie vermuten. Kein anderer als
dieser unheimliche Mensch ist der Urheber meines
Unglücks."
„Sie haben einen bestimmten Anhalt dafür?
Etwas Tatsächliches, das dazu dienen könnte, ihn zn
überführen?"
„Ja, ja!" erzählte sie hastig. „Ich hatte vor
Wochen einmal beim Betreten des Hauses ein Buch
verloren, den ersten Band eines Romans, den er-
fand und mir am nächsten Tage ans der Straße
zurückgab. Er hatte ihn über Nacht gelesen und legte in
allerlei ziemlich unverständlichen Reden ein so großes
Interesse für den Inhalt an den Tag, daß ich mich ans
Erkenntlichkeit für den erwiesenen Dienst verpflichtet
glaubte, ihm auch den zweiten Band zur Lektüre
anzubieten. Ich ließ ihm das Buch durch meinen
Bruder znkommen und hatte über den schrecklichen
Aufregungen, die bald nachher ans mich einstürmten,
die unbedeutende Angelegenheit völlig vergessen, als
mir eines Mittags — es mag drei oder vier Tage
nach meiner Rückkehr von dem Gute gewesen sein —
das Dienstmädchen meiner Schwägerin meldete, der
Buchhalter Bartel sei da und wünsche mich zu sprechen.
Ich befand mich gerade in der Küche, und sie hatte
die Ungeschicklichkeit begangen, den fremden Menschen
in mein Zimmer eintreten zn lassen. Als ich die
Tür öffnete, glaubte ich deutlich zu sehen, daß er sich
an meinem Schreibtisch zn schaffen machte. Aber
ich war meiner Sache doch nicht so sicher, daß ich
ihn hätte zur Rede stellen können, zumal ich ja auch
an nichts Schlimmeres als an eine allerdings sehr-
unschickliche Neugier dachte. Er erklärte, daß er
gekommen sei, mir das geliehene Buch zurückzu-
bringen. Aber obwohl ich mich rechtschaffen bemühte,
den zudringlichen Menschen sogleich wieder loszu-
werden, konnte ich doch nicht verhindern, daß er mir
seine Teilnahme ausdrückte und mir seinen Beistand
zur Wiedererlangung meines kleinen Vermögens
anbot. Erst auf eine sehr deutliche Ablehnung hin
entschloß er sich, zu gehen. — Er muß der geheimnis-
volle Spender des Tausendmarkscheins gewesen sein,
denn ich erinnere mich genau, daß ich die Cchieblade
mit den Briefen während meiner kurzen Abwesenheit
nicht verschlossen hatte. — Aber dann —" diese
weitere Folgerung kam ihr erst jetzt in den Sinn —
„dann wäre er ja auch der Kassendieb gewesen."
„Er ist es," sagte Hermann Schröder sehr ernst,
„und er ist vielleicht noch etwas viel Schlimmeres
als das. Ich glaube, Fräulein Winter, wir sind
im Begriff, die Lösung des Rätsels zu finden. Aber
Sie müssen verzeihen, wenn ich mich jetzt keinen
Augenblick länger aufhalte, denn hier ist rasches
und energisches Handeln geboten."
Er reichte ihr die Hand und drückte auf den
Knopf des Telegraphen, der den Schließer benach-
richtigte. Mit der Gefangenen zugleich verließ er
das Zimmer und kehrte beflügelten Schrittes zu dem
Untersuchungsrichter zurück, von dem allein die er-
forderlichen Maßnahmen zur Verfolgung der aus-
gefundenen Fährte ausgehen konnten.
Einen ganzen Tag lang hatte Joseph Bartel den
Brief an den Staatsanwalt mit sich herumgetragcn,
ehe er den Mut sand, ihn in den Kasten zu werfen.
Aber fast schon in dem Augenblick, da er seinen
Händen entglitt, war ihm die Reue gekommen über-
fein allzu kühnes Beginnen. Das sehnsüchtige Ver-
langen, dem geliebten Mädchen einen Dienst zu er-
weisen und ihm vielleicht die Freiheit zu verschaffen,
hatten ihn dazu getrieben. Nun aber, als der Ge-
danke zur Tat geworden war, stellten sich seinem
Geiste die möglichen Folgen plötzlich in den schreck-
haftesten Bildern dar. Und wenn er ein Mittel
gewußt hätte, sich wieder in den Besitz seines Briefes
zu bringen, so würde er gewiß nicht gezögert haben,
sich seiner zn bedienen.
Umsonst wiederholte er sich immer aufs neue,
daß er ja mit äußerster Vorsicht zu Werke gegangen
war, daß niemand in dem ungelenken linkshändigen
Gekritzel seine Handschrift erkennen würde, und daß
weder das zum Schreiben benutzte Papier noch der
Briefumschlag ihm zu Verrätern werden konnten.
Die peinigende Angst, er könnte bei aller Behutsam-
keit etwas versehen haben, wollte ihn trotzdem nicht
verlassen. Er verbrachte eine schlaflose Nacht, in
der er sich unaufhörlich vorsagte, was er antworten
würde, wenn man ihn etwa um seine Kenntnis von
dem Briefe befragen sollte. Er war niemals müder
und zerschlagener an seine Arbeit gekommen als am
nächsten Morgen.
Im Laufe des Tages, als sich nichts Besorgnis-
erregendes ereignete, wurde erzwar etwas ruhiger; aber
die hereinbrechende Dämmerung, die von jeher seine
schlimmste Feindin gewesen war, ließ alle im Hellen
Tageslicht mehr und mehr verblaßten Schreckgestalten
in greifbarer Körperlichkeit wieder anfleben. Als er
nach Schluß der Vnreaustunden das Geschäftshaus
verließ, würde er sich um nichts iu der Welt ent-
schlossen haben, sogleich in die Einsamkeit seiner vier
Wände zurückzukehren.
Es war ein drückend schwüler Tag, und drohende
Gewitterwolken, die sich am westlichen Himmel zu-
sammenballten, hatten es ungewöhnlich früh dunkel
werden lassen. Hie und da zuckten bereits fahl-
bläuliche Blitze in der Wolkenwand ans, und das
dumpfe Grollen fernen Donners ließ sich vernehmen.
Zu den vielen gleichsam angeborenen Eigentüm-
lichkeiten Bartels aber zählte auch die hochgradige
nervöse Aufregung und Furcht, die sich seiner jedes-
mal schon geraume Zeit vor dein Ausbruch eiues
Gewitters bemächtigte, und die sich während des sür
die meisten anderen Menschen so gleichgültigen Natur-
ereignisses oft bis zn unerträglich qualvollen Zu-
ständen steigerte.
Heute zumal, wo seiu Nervensystem ohnedies bis
zu äußerster Empfindlichkeit gereizt war, glaubte er
in der schweren Gewitteratmosphäre vor Angst fast
vergehen zu müssen. Und er nahm seine Zuflucht
wieder zu jenem verzweifelten Mittel, das ihm
wenigstens für flüchtige Augenblicke Betäubung und
Vergessen verhieß.
In einen, erbärmlichen Chantant an der Schuh-
brücke, einem Vergnügungslokal allerniedrigster Art,
setzte er sich zu mehreren anderen, bereits stark ange-
heiterten Personen an den Tisch, und erwarb sich
durch seine Freigebigkeit das Recht, an ihrer Unter-
haltung teilzunehmeu.
Es war eine wüste und rohe Unterhaltung, wie
sie unter gewöhnlichen Verhältnissen seinem Geschmack
durchaus uicht entsprochen hätte. Heute aber trieb
er es fast noch ärger als die anderen, und forderte
durch die Menge der geistigen Getränke, die er in
wahllosem Durcheinander zn sich nahm, die Be-
wunderung seiner Zechkumpane heraus. Bald genug
stellte sich die unausbleibliche Wirkung dieser Un-
mäßigkeit ein. Er begann wirre, zusammenhanglose
Reden zu führen, und wurde händelsüchtig, als man
ihn zu verlachen und zu hänseln anfing. Als ihn
daraufhin der Wirt mit ziemlich unzweideutiger Ent-
schiedenheit ausforderte, das Lokal zn verlassen, mochte
ihm wohl eine dunkle Erinnerung an seine neulichen
unliebsamen Erlebnisse aufdämmern, denn er ließ
es diesmal nicht erst auf eine Gewaltanwendung
ankommen, sondern schwankte unter allerlei halb
unverständlichen Schmähungen ins Freie hinaus.
Das Gewitter, von dem er drinnen in dem lärm-
erfüllten Raume nur wenig wahrgenommen hatte,
schien eben jetzt seinen Höhepunkt erreicht zu haben.
Von Sekunde zu Sekunde wandelte sich die nächtliche
Dunkelheit in ein Meer von grünblauem Feuer, der
Donner krachte und knatterte, als stürzten unaufhör-
lich ganze Häuserreihen in sich zusammen, und ein
wolkenbruchartiger, mit großen Eisstücken unter-
mischter Regen rauschte auf die menschenleeren
Straßen nieder.
Schon nach den ersten zwanzig Schritten war
Bartel völlig durchnäßt. Aber er bemerkte es gar
nicht, denn der furchtbare Aufruhr der Elemente
dünkte ihn nichts anderes als der Donner des
jüngsten Gerichts. Die gräßliche Angst, die trotz des
Rausches wieder wie mit Geierkrallen seine Seele
gepackt hatte, raubte ihm auch den letzten Rest von
klarer Besinnung. Er stöhnte auf, so oft ein zackiger
Blitzstrahl vor ihm das Gewölk zerriß; seine Kniee
schlotterten, wenn der Donner zermalmend über ihn
dahinrollte, und mehr eine Äußerung tierischen
Instinkts als eine Folge klarer Überlegung war es,
wenn er trotz alledem seinen Heimweg fand.
In der Türnische des Hauses stand ein Mann,
der dort notdürftigen Schutz vor dem strömenden Regen
gesucht haben mochte. In sehr menschenfreundlicher
Weise war er dem Buchhalter behilflich, das Haus-
tor zu öffnen. Aber als er sich sogar bereit erklärte,
ihn hinaus zu geleiten, lehnte Bartel beinahe
heftig ab.
„Was denken Sie von mir?" lallte er. „Halten
Sie mich für betrunken? Oder glauben Sie, daß es
da oben etwas zu holen gibt?"
Der Mann drängte sich ihm nicht weiter auf,
und der Berauschte tastete sich mühsam über die
dunkle Stiege empor. Daß die Tür seines Zimmers
sich vor ihm auftat, während er noch nach dem
Schlüsselloch suchte, erschien ihm nicht besonders
verwunderlich. Er taumelte zum Tische und griff
auf der Platte umher, des Leuchters mit dem Feuer-
zeug habhaft zu werden. Da überflutete ein zuckender
Doppelblitz für den Bruchteil einer Sekunde das
kleine Gemach mit blendender Helle, und ein gellender
Aufschrei, der selbst das Geprassel des unmittelbar
folgenden Donners übertönte, kam aus Joseph Bartels
Kehle.
Unmittelbar vor sich, an der anderen Seite des
Tisches, hatte er eine hochaufgerichtete menschliche
Gestalt gesehen, und es gab für ihn keine Ungewiß-
heit, daß es die hagere Gestalt des toten Rendanten
gewesen sei.
„Gnade! -- Barmherzigkeit!" wimmerte er, in
die Kniee znsammengebrochcn. „Ich habe dich doch
nicht umgebracht."
Ein Griff an der verdeckten Blendlaterne, und
das fahle Gesicht des Buchhalters mit seinen hervor-
quellenden Augen und seinen verzerrten Zügen war
hell beleuchtet.
„Im Namen des Gesetzes, Bartel — Sie sind
verhaftet!" schlug eine tiefe Stimme, die allerdings
nicht die des Rendanten war, an sein Ohr. „Machen
Sie gefälligst keine Umstände; sonst würden wir
genötigt sein, Sie zu schließen."
Joseph Bartel aber war nicht in der Verfassung,
viele Umstände zu machen. Stumm und zitternd,
ein plötzlich ernüchterter, aber zugleich vollständig
gebrochener Mann, folgte er den beiden Beamten,
welche die Tür seines Zimmers hinter sich mit den
polizeilichen Papiersiegeln verklebten. Er war mit
einem Male so schwach und hinfällig geworden, daß
die beiden Männer, die ihn in die Mitte genommen
hatten, ihn mehr tragen als führen mußten. Aber-
fein Geist war wunderbarerweise jetzt ganz klar.
Und ohne daß er von ihnen gefragt worden wäre,
nur aus dem Verlangen heraus, die furchtbare Last
von seinem Herzen zu wälzen, erzählte er unterwegs
seinen Begleitern die ganze Geschichte seiner Schuld.
Sie hörten ihn ruhig an. Aber als er geendet,
sagte der Kriminalkommissar Neuburger sarkastisch:
„Ein hübsches Märchen, mein Lieber — gut aus-
gesonnen und vorgebracht. Schade nur, daß sich
schwerlich jemand finden wird, der daran glaubt.
Für heute nacht mag es gelten — morgen aber
werden wir uns doch eine andere Erklärung aus-
bitten, denn wir sind einigermaßen neugierig, zu
erfahren, wo Sie mit dem ansehnlichen Rest der
Bente geblieben sind und wo Sie die Leiche des er-
mordeten Winter versteckt haben. — Oder vielleicht
haben Sie in Ihrem eigenen Interesse die Güte,
es uns gleich jetzt zn sagen."
Aber seine Vermutung, daß von einem ordent-
lichen Verhör des Verhafteten für diese Nacht wohl
würde Abstand genommen werden müssen, erwies
sich als vollkommen zutreffend. Sobald man ihn in
den Aufnahmeraum geführt hatte, fiel Bartel wie
eine leblose Masse auf die Holzbank und starrte mit
leerem Blick vor sich hin auf die Dielen. Auf die
an ihn gerichteten Fragen hatte er keine Antwort
mehr, und das krampfartige Zittern, das von Zeit
zn Zeit seinen Körper überflog, ließ erkennen, daß
es sich hier nicht um geschickte Verstellung, sondern
um einen Zustand hochgradiger geistiger und körper-
licher Erschöpfung handle.
Willig ließ es der Unglückliche geschehen, daß
man ihn seiner durchnäßten Kleider entledigte. Aus
dem harten Lager der Gefängniszelle, deren Tür sich
sodann hinter ihm schloß, schien er bald in tiefen
Schlummer gesunken.
Ileunrelmts; Kapitel.
Ein herrlicher, sonniger Morgen war nach der
stürmischen Gewitternacht über der schlesischen Haupt-
stadt angebrochen. Nur die-großen Wasserlachen,
die noch hie und da in den Straßen standen, gaben
Kunde von dem entsetzlichen Unwetter, das so viele
um ihren Schlaf gebracht hatte. Das Laubwerk der
Bäume aber sah so frisch und verjüngt aus, als
befände man sich mitten im Frühling, die Groß-
stadtbewohner, die schon in früher Morgenstunde
an ihr Tagewerk gingen, schienen die erquickende
Abkühlung nach der drückenden Hitze der letzten Tage
als eine köstliche Wohltat zu empfinden.
Früher als sonst hatte Frau Hermine Winter sich
heute von ihrem Lager erhoben. Auch sie hatte in-
folge des stundenlang tobenden Gewitters eine nahezu
schlaflose Nacht verbracht, und sie war dadurch in
einen Zustand nervöser Unruhe versetzt worden, der
ihr das Stillliegen schließlich ganz unerträglich machte.
Sie kleidete sich an und ging in eines der nach der
Straße gelegenen Zimmer, um das Fenster zu öffneu
und in tiefen Atemzügen die würzige Morgenluft zu
trinken, die sich immer als ein gutes Beruhigungs-
mittel für ihre aufgeregten Nerven bewährt hatte.
Eine Droschke, die schwerfällig die Straße herauf-
kam, erregte ihre Aufmerksamkeit, und mit einem
Ausruf freudigster Überraschung neigte sie sich weit
zum Fenster hinaus, als sie den Insassen des jetzt