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Rede — ihre erklärten Lieblinge, von denen sie gerne sprach. Und
es war kaum befremdlich, daß sie mit Detlefsen in ihren besonderen
Zuneigungen immer übereinstimmte; sie galten bei ihm wie bei
ihr aus heiligem Mitleid heraus den schwächlichsten und kränklichsten,
den geistig und körperlich am meisten zurückgebliebenen unter den
Pfleglingen. Da wurde jeder kleine Fortschritt mit wahrer Freude
festgestellt, von jeder Äußerung erwachender Lebensfreude wie von
einem bedeutsamen Ereignis berichtet. Und die beiden, die sich
eins wußten in ihrer wahr¬
haften Teilnahme an frem¬
dem Geschick, verstanden
sich wortlos, wie Eltern,
die über dem Bett ihres
Kindes einander Zulächeln.
Erich Helmolt machte
zumeist den schweigsamen
Zuhörer bei solchen Ge¬
sprächen. Nicht daß es ihm
an menschlich em Mitgefühl
gefehlt hätte; auch er sprach
lieb und freundlich zu den
Kindern, streichelte sie und
suchte sie durch kleine Ge¬
schenke zu erfreuen. Aber
er konnte das richtige Ver¬
hältnis zu ihnen nicht ge¬
winnen. Sie blieben ihm
gegenüber ebenso zaghaft
und zurückhaltend, wie sie
es im Verkehr mit den an¬
deren gelegentlichen Be¬
suchern waren. Sie spür¬
ten mit dem feinen, un¬
trüglichen Kinderinstinkt
die Herablassung des Mit¬
leids irr seiner Güte, und
er blieb für sie der unbe¬
kannte Fremde aus einer
anderen Welt, in die hin¬
über sie noch keine Brücke
des Verstehens führte. Von
den Häßlichen unter ihnen
aber, den Verkümmerten
und durch frühzeitiges, er¬
erbtes Siechtum Entstell¬
ten trennte ihn vollends
die unüberwindliche Kluft
einer Abneigung, die er
selber auf sein stark ausge¬
prägtes Schönheitsgefühl
zurückführte, und deren er
nicht Herr werden konnte,
auch wenn sie ihm tadelns¬
wert erschien. Er hatte
darunter schon während
seiner Studienzeit emp¬
findlich gelitten, und es
war einer der wesentlich¬
sten unter den Gründen
gewesen, die es ihm leicht gemacht hatten, dies Studium auf-
zugeben. Nun fühlte er sich nicht gedrängt und nicht berechtigt
mitzureden, wenn von jenen Allerärmsten mit soviel Wärme
gesprochen wurde. Und die beiden anderen bemerkten es offenbar
gar nicht, wenn er ihrer Unterhaltung fern blieb, wenn er seinen
Stuhl in irgend einen Winkel des Zimmers rückte, das Kinn nach
seiner Gewohnheit in die Hand legte und stumm zu Frau Marianne
hinübersah.
Das tat er oft sehr lange, und zuweilen kam dabei ein seltsames,
unruhvolles Flackern in seine Augen. Wenn dann Detlefsen auf-
stand und damit auch für ihn das Zeichen zum Aufbruch gegeben
war, zeigte sein Gesicht jedesmal eine auffallende Blässe und Traurig-
keit. Er gab sich wohl Mühe, ruhig und heiter zu scheinen; aber

Frau Marianne musterte ihn mit sorgenvoller Miene und drückte
ihm wie zur Ermutigung die Hand. Dann drehte er hastig den
Kopf zur Seite und hatte es viel eiliger fortzukommen als sein
Begleiter.
Ob Detlefsen von dieser sonderbaren, immer wiederholten Er-
scheinung etwas gewahrte, blieb lange ungewiß. Einmal aber,
nachdem sie auf dem Heimwege eine gute Weile schweigend neben-
einander hergegangen waren, fragte er: „Was ist das mit Ihnen,
Helmolt? Warum sind Sie
so verstimmt?"
„Ich bin nicht ver-
stimmt, gewiß nicht. War-
um sollte ich es auch sein?"
„Es ist nicht das erste
Mal, daß ich den Eindruck
habe. Und Sie sollten
sicksts vom Herzen reden.
Haben Sie mir nicht ver-
sprochen, immer aufrichtig
gegen mich zu sein?"
„Ja. Ich bin auch nie
unaufrichtig gegen Sie ge-
wesen. Aber wie soll man
über etwas sprechen, das
man sich selber nicht zu
erklären weiß."
„Manchmal findet sich
die Erklärung, indem man
darüber spricht. Ich dränge
mich nicht in Ihr Ver-
trauen. Nur bin ich der
Meinung, daß es ungesund
für Sie ist, wenn Sie sich
Stimmungen überlassen,
über die Sie sich keine
Rechenschaft geben können
oder geben mögen."
„Sie haben wohl recht.
Erlauben Sie mir also,
Sie meinerseits etwas zu
fragen. Finden Sie nicht,
daß Marianne sich sehr
verändert hat?"
„Nein. Davon habe ich
nichts bemerkt."
„Aber es ist so; ich
kenne sie zu gut. Ich kann
mich darin nicht täuschen."
„Und worin sollte diese
Veränderung bestehen?"
„Sie liebt mich nicht
mehr. Alle ihre Liebe ge-
hört nur noch den Kindern."
Heftig, wie der Aus-
bruch einer lange zurückge-
haltenen Erregung, waren
die Worte von seinen Lip-
pen gekommen. Detlefsens
Züge aber wurden hart.
„Sie ist Ihre schwesterliche Freundin — heute wie immer.
Wenn Sie anfangen wollten, auf diese unglücklichen Kleinen eifer-
süchtig zu werden, wären Sie ein Narr, oder Schlimmeres als ein
Narr."
„Ob Sie mich schelten oder nicht, dadurch wird au meiuem
Empfinden nichts geändert. Ich kann das nicht mehr ertragen.
Nie mehr werde ich meinen Fuß in dies Asyl setzen."
„Das steht in Ihrem Belieben. Aber haben Sie bedacht, zu
einer wie trauriger: Rolle Sie sich damit vor Frau Marianne er-
niedrigten?"
„Kann ich denn noch tiefer erniedrigt werden als damit, daß sie
sich innerlich von mir losgesagt hat — daß ihr irgend ein wildfremdes
Proletarierkind hundertmal mehr ist als ich?" Ein Klang von

General v. Stein, der neue preußische Kriegsminister.
 
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