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Das Buch für Alle

Heft 2


Einen Monat später aber wurde dein jungen Bäumler ein ge-
wisses Vergnügen bereitet. Da erzählte ihm ein Kollege, der auch
schon lange eine Wohnung suchte: „Seit heute früh hab' ich eine
Wohnung, eine entzückende Wohnung, in der Grünstraße 23.
Da hat mir ein gewisser Herr Malgadey seine Wohnung auf län-
gere Zeit überlassen; er muß auf Reisen gehen."
„Nh, was Sie sagen!" erwiderte Bäumler. Vorläufig sagte er
weiter nichts. Aber er war sicher, daß zwei oder vielleicht drei Tage
später sein Kollege ihm etwas Neues von der entzückenden Woh-
nung erzählen, und daß sie dann wahrscheinlich beide auf die Po-
lizei gehen würden, um den Inhaber der entzückenden Wohnung
dahin zu bringen, wo er ohne Vermittlung des Wohnungsamtes
ein sicheres Obdach finden mußte. Und zwar nicht nur vorüber-
gehend, sondern auf ganz genau bestimmte Zeit.
Zum sechshuudettjühnM Todestag Dantes
Von Sebald Hamon / Mit zwei Bildern
ante Alighieri ward im Mai 1265 in Florenz geboren. In der Taufe
F^^erhielt er den Namen Dnrante („Hartmut"), der, nach der Zeitsitte
r^-mn Dante abgekürzt, ihm so dauernd verblieben ist. Am 14. Septem-
ber 1921 sind sechshundert
Jahre verflossen, da er in
Ravenna in der Verbannung
starb. Nicht nnr in Italien
feiert man diesen Tag, in
allen Kulturländern gedenkt
man des Dichters und ehrt
ihn als einen der Groszen
aller Zeiten. Wenn ein Mann
nach sechshundert Jahren noch
nicht vergessen ist, muß seine
Bedeutung nicht gering ge¬
wesen sein. Sind es allein
seine Dichtungen, die nur
wegen ihrer Schönheit und
Tiefe der Gedanken die Men-
schen fesselten? — Oder ist
es der Mann und sein Leben,
die zur Bewunderung hin¬
reißen? Beides bildet den
Grund, weshalb er nie ver¬
gessen werden kann. Seine
Größe beruht darin, daß er
als ein Menschheitsführer die
Lebenden aus dem Elend zn
befreien suchte; vom Leid
wollte er die Menschen er¬
lösen, sie zur Glückseligkeit
leiten. Entscheidend ist die
Größe seines Charakters, sein
mannhaftes Wesen. Die großen Fragen des Lebens beschäftigten sein
Gefühl und seinen Geist, und mit heißem Bemühen suchte er sie zu lösen.
Gewohnt, nach sittlichen Entscheidungen zu handeln, pflegte er nicht nur
Ideen zu äußern, er lebte auch nach diesen Anschauungen, die er als
junger Mann mit dem Schwert vertrat. Als die Partei, zu der er sich in
seiner Vaterstadt bekannte, im Jahre 1302 erlag, war sein Los die Ver-
bannung. Vogelfrei verließ er die Heimat und lebte im E.ril seiner Über-
zeugung. Zu jener Zeit war Verbannung schwer zu ertragen; getrennt
von Weib und Kindern führte er ein hartes Dasein. Not und Bitternis blieben
ihm nicht fremd; aber alles Leid stählte seinen unbeugsamen Charakter;
er ward „felsenfest für des Geschickes Streiche". Nach Jahren wäre es ihm
möglich gewesen, heimznkehren. Da dies nur nach Erfüllung entehrender
Forderungen geschehen konnte, blieb Dante weiter in der Fremde und ver-
zichtete auf Erleichterung seiner trüben Lage. In seiner großen Dichtung
„Die göttliche Komödie" schildert Dante seine Wanderung durch die Hölle,
das Fegefeuer und den Himmel; den Weg, den er als Vertreter der
Menschheit aus den Tiefen der Sünde hinauf auf die Höhen der Erlösung
gegangen ist, den Weg aus Nacht zum Licht und zur Befreiung von Schuld.
Er ichuf ein Bild der Menschennatur in ihrer tiefsten Niedrigkeit und
höchsten Erhebung, nut Zügen des Lasters, der Gemeinheit wie der lichte-
sten Tugend. Daß er als Richter auftrat als Bevollmächtigter der höchsten
Gerechtigkeit, des reinsten Sittenbewußtseins seiner Zeit, als Prophet,
der mit Gottes Absichten aufs tiefste vertraut ist, das verleiht Dante die
besondere Größe und läßt ihn vor allen anderen als Mann erscheinen, als
einzigartigen Charakter. Man fühlt unmittelbar, daß sein richterliches Urteil

unbestechlich ist, daß er sich weder von persönlichem Haß noch von Freund-
schaft leiten läßt. Er urteilt nach reinstem Gewissen, übereinstimmend mit
den erhabensten sittlichen und religiösen Überzeugungen seiner Zeit.
Seit Dantes gewaltigem Kampf sind Jahrhunderte vergangen, die Welt
ist nach mehr als einer Richtung anders geworden. Aber die Menschen
werden noch immer mit den gleichen Herzen und den nämlichen Bedürf-
nissen des Gemütes geboren. Das ist der Grund, weshalb in unserer Zeit
der wüsteste Aberglaube wieder lebendig geworden ist, den der Dichter der
„Göttlichen Komödie" vor bald sechshundert Jahren als verhängnisvoll
erkannte und bekämpft hat. Vor zweiundfünfzig Jahren schrieb der Dante-
forscher Scartazzini: „Dante, das Kind des Mittelalters, beschämt in dieser
Hinsicht gar viele Kinder des neunzehnten Jahrhunderts." Was würde
Scartazzini heute zum Wiederaufleben des traurigsten Fatalismus sagen,
der Astrologie, des trügerischen, sittlich verderblichen Wahns vom Einfluß
der Gestirne auf die Schicksale der Menschen? Bei Dante findet man die
Astrologen und Sterndeuter seiner Zeit im Höllenkreis der Sünder. Mit
klarem Geist und tiefschauendem, richtig urteilendem Blick erhob sich Dante
über seine Epoche, die er von einem höheren Standpunkt aus betrachtete.
Als Richter der Vergangenheit und Gegenwart samt ihrer Geschichte, ihren
Sitten und Bräuchen beurteilt er alles vom Gesichtspunkt der Ewigkeit,
und als Prophet verkündet er neue, bessere Zeiten. Autorität vermag ihn
weder zu blenden noch einzuschüchtern, Freiheit und sittliche Verantwor-
tung sind der Grundzug seines Charakters. Deshalb verwirft er auch die
Astrologie, den abergläubi-
ichen Sternwahn, denn sie
ist im Kern ihrer unsinnigen
Theorien unsittlich, weil sie
fatalistisch ist. Die Astrologie,
ein Erbe Asiens, mag dem
Wesen willensschwacher, le-
bensfeindlicher Inder gemäß
sein; da sie letzten Endes das
sittliche Streben des Men-
schen verneint, hat Dante sie
abgelehnt.
Im 16. Gesang des „In-
ferno" beschwört der Dichter
den Venezianer Marco Lom-
bardo, er möge ihm die Wahr-
heit über die Freiheit des
Willens sagen. Durch den
Mund Lombardos erfährt
man Dantes Standpunkt über
den vermeintlichen Zwang
der Gestirne, die durch ihre
Stellung bestimmend auf die
Geschicke der Welt und des
Menschenwirken sollen. Wäre
dies so, dann müßte der Wille
unfrei sein, und das sittliche
Verhalten hätte dann keinen
Sinn. Dem Menschen aber
„ward ein Licht für das Gut
und Schlechte, das im Kampfe gestählt wird und siegt". Weiter heißt es:
„Und seid ihr frei, so ist das, was euch leitet,
Beßre Natur und größere Kraft — ein Geist,
Dem keine Hindrung mehr ein Stern bereitet."
Da es auf so engem Raum unmöglich ist, den Gedanken eines so über-
ragenden Geistes, einem so gewaltig ringenden Charakter wie Dante auch
nur annähernd gerecht zu werden, mag dieser eine Zng genügen, daß er nach
sechshundert Jahren noch zeitgemäß ist. In trübem Aberglauben befangene
Natnren, die heute den Sternen wieder Macht über sich einräumen, die ihre
iunere Freiheit preisgeben nnd auf den Kampf um Eick und Schlecht ver-
zichten, dürfen sich auf Dante nicht berufen, der am Ende des Mittelalters
geistig und sittlich höher stand als die auf die Kulturerrungenschaften des
zwanzigsten Jahrhunderts sonst so stolzen Menschen. Sie sind dem großen
Denker nnd Dichter im Wesen nicht ähnlich. Sie gleichen der Masse, die vor
sechshundert Jahren den Geist und das Gemüt Dantes mit bitterem Leid
über ihr verworrenes Leben, Denken und Tun erfüllte, und die er zu er-
lösen strebte aus ihrer Verwirrung. Auch unserem vielfach haltlos gewor-
denen Geschlecht haben Dichtung und Vorbild des großen Menschen genug
zu sagen. Von feige ausweichender Schwäche, die immer wieder die Schuld
an allem Elend nur in den Verhältnissen sucht, kann keine sittliche Er-
neuerung erwartet werden. Was allein helfen kann, ist der glaubensstarke
Mannesmut, der es wagt, bei der eigenen Verantwortnng den Anfang
zu machen, und wie Dante, statt die Welt zu verachten oder zu fliehen, in ihr
den Kampf gegen änßeren und inneren Widerstand zu wagen, ringend
sich zu erheben zum Sieg eines geläuterten, wahrhaft „neuen Lebens".


Dantes Geburtshaus in Florenz.
 
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