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Neue Moral
Roman von Reinhold Ort mann / Fortsetzung
uten Morgen, Paul! Du willst zu Edith? Es ist leider un-
möglich. Sie hat heute keinen guten Tag, und du wirst sie
gewiß nicht unnötig aufregen wollen." Das Mädchen
hatte es im leisesten Flüsterton gesprochen, und ihn dabei an
der Hand zu einer Tür aus der andern Seite des Ganges ge-
zogen, durch die sie nun beide in ein altväterisch behaglich, ja,
reich ausgestattetes Wohnzimmer traten. Das ungefähr achtzehn-
jährige Mädchen, dem man trotz des einfachen dunklen Haus-
kleides auf den ersten Blick die gute Herkunft ansah, machte ein
recht ernstes Gesicht, als Paul Uhtoff mit der Bitterkeit eines in
tiefster Seele verstimmten Menschen sagte: „Das wiederholt sich
nun Tag für Tag. Ich darf meine Frau nicht sehen, weil mein An-
blick sie zu sehr aufregt. Und dabei bin ich genötigt, unter einem Dach
mit ihr zu Hausen. Kannst du dir denn denken, daß es mir möglich
sein wird, diesen unnatürlichen Zustand noch lange zu ertragen?"

„Du tust mir ja schrecklich leid, armer Paul! Ich kann dir deinen
Kummer so gut nachfühlen. Aber es läßt sich doch nichts dagegen
tun. Wir müssen Geduld haben. Du darfst nicht vergessen, daß
Edith leidend ist."
„Ich vergesse es nicht. Aber du wirst es begreiflich finden, wenn
ich es ausspreche, daß eine Kranke ihrer Art nicht in die Familie,
sondern in ein Sanatorium gehört. Wie soll sie denn hier, wo es
ihr an richtiger psychiatrischer Behandlung durch einen Arzt fehlt,
Genesung finden? Wir werden eines Tages noch die unan-
genehmsten Überraschungen erleben, und dann bleibt uns der
Vorwurf nicht erspart, daß wir nicht rechtzeitig gehandelt
haben."
„Aber es ist doch schon zweimal versucht worden, Edith über
die Notwendigkeit aufzuklären, daß sie nur in einem Sanatorium
Genesung finden kann; und jedesmal hat sich ihr Zustand er-
schreckend verschlimmert. Sooft ich auch nur die leiseste Andeu-
tung in diesem Sinne Zu machen wagte, erlebte ich einen ihrer
fürchterlichen Verzweiflungsanfülle. Sie ist überzeugt, das Leben
nur in der Umgebung ertragen zu können, an die sie von Kind-


Aufsteigende Morgennebel.
 
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