HO 4 Illustricrtc Familienzeitung 1922
Neue Moral
Roman von Reinhold Ort mann / Fortsetzung
ie sind heute merkwürdig schwer von Begriff," entgeg-
nete Alfons Stemmler auf Pau! Uhtofss Einwand.
„Verstehen Sie mich doch recht! Ihnen wird Gerling
allerdings vorderhand unbesehen alles glauben, was Sie ihm
erzählen, denn er kennt Sie nur als hochangesehenen Handels-
herrn und als Mann von unantastbarem Ruf. Auf dies Ver-
trauen können Sie vorläufig jeden Wechsel ziehen. Er wird die
Dinge nur so sehen, wie Sie sie ihm darstellen, und wird sich
darin durch nichts beirren lassen, was ihm etwa von anderer
Seite zufliegt. Für das, was er zunächst zu tun haben wird,
reicht das vollkommen. Sie haben in ihm einen pflichttreuen,
gewissenhaften und verschwiegenen Menschen. Was wollen Sie
mehr?"
„Nun, ich kann ja den Versuch wagen. Hohe Erwartungen hege
ich nicht. Wenn er ein solcher Fanatiker der Rechtschaffenheit ist,
werde ich schließlich selber vor ihm ans der Hut sein müssen."
„Das ist nur eine Frage der richtigen Erziehung, mein lieber
Herr Uhtoff. Wenn man meinen Vetter bei seinem Pflichtbewußt-
sein zu fassen versteht, kann man aus ihm machen, was man will.
Sein Weg muß ihm immer von irgend einer wirklichen oder einge-
bildeten Pflicht gewiesen werden, wenn er ihn nicht verfehlen soll.
Und es muß eine möglichst hohe und heilige Pflicht sein, damit
sie bei etwaigen Gewissenskonflikten immer den Sieg behält.
Darum müssen wir ihn mit allen Kräften darin bestärken, wenn
er, wie es scheint, jetzt die Dummheit begehen will, sich Zu ver-
heiraten."
„Sie werden mir immer unverständlicher. Junge Ehemänner
sind in der Regel wenig brauchbare Arbeiter."
„Ach, was tut das! Die Flitterwochenstimmung geht rasch vor-
über. Das Wichtigste sind die Pflichten, die Gerling damit auf
sich nimmt, und ich werde das meinige dazu tun, daß sie nicht zu
klein werden. Das junge Ding, an das er sich gehängt hat, scheint
hinter seiner kleinbürgerlichen Wohlerzogenheit einen nicht ge-
ringen Lebenshunger zu verbergen. Und sie weiß von den Freu-
den und den Gefahren des Lebens bis heute offenbar so wenig
wie ihr Verlobter. Das auskömmliche Gehalt, das Sie Gerling
gewähren müssen, wird ihnen wie ein unerschöpflicher Reichtum
vorkommen, und in der ersten Verliebtheit wird er seinen: jungen
Weibchen selbstverständlich die Zügel etwas locker lassen. Ich
wette, daß ihr nach einen: halben Jahre die Rückkehr in die alten
Am Sonnlagmorgen. Rach einem Gemälde von Adolf Lind.
4. 4922.
Neue Moral
Roman von Reinhold Ort mann / Fortsetzung
ie sind heute merkwürdig schwer von Begriff," entgeg-
nete Alfons Stemmler auf Pau! Uhtofss Einwand.
„Verstehen Sie mich doch recht! Ihnen wird Gerling
allerdings vorderhand unbesehen alles glauben, was Sie ihm
erzählen, denn er kennt Sie nur als hochangesehenen Handels-
herrn und als Mann von unantastbarem Ruf. Auf dies Ver-
trauen können Sie vorläufig jeden Wechsel ziehen. Er wird die
Dinge nur so sehen, wie Sie sie ihm darstellen, und wird sich
darin durch nichts beirren lassen, was ihm etwa von anderer
Seite zufliegt. Für das, was er zunächst zu tun haben wird,
reicht das vollkommen. Sie haben in ihm einen pflichttreuen,
gewissenhaften und verschwiegenen Menschen. Was wollen Sie
mehr?"
„Nun, ich kann ja den Versuch wagen. Hohe Erwartungen hege
ich nicht. Wenn er ein solcher Fanatiker der Rechtschaffenheit ist,
werde ich schließlich selber vor ihm ans der Hut sein müssen."
„Das ist nur eine Frage der richtigen Erziehung, mein lieber
Herr Uhtoff. Wenn man meinen Vetter bei seinem Pflichtbewußt-
sein zu fassen versteht, kann man aus ihm machen, was man will.
Sein Weg muß ihm immer von irgend einer wirklichen oder einge-
bildeten Pflicht gewiesen werden, wenn er ihn nicht verfehlen soll.
Und es muß eine möglichst hohe und heilige Pflicht sein, damit
sie bei etwaigen Gewissenskonflikten immer den Sieg behält.
Darum müssen wir ihn mit allen Kräften darin bestärken, wenn
er, wie es scheint, jetzt die Dummheit begehen will, sich Zu ver-
heiraten."
„Sie werden mir immer unverständlicher. Junge Ehemänner
sind in der Regel wenig brauchbare Arbeiter."
„Ach, was tut das! Die Flitterwochenstimmung geht rasch vor-
über. Das Wichtigste sind die Pflichten, die Gerling damit auf
sich nimmt, und ich werde das meinige dazu tun, daß sie nicht zu
klein werden. Das junge Ding, an das er sich gehängt hat, scheint
hinter seiner kleinbürgerlichen Wohlerzogenheit einen nicht ge-
ringen Lebenshunger zu verbergen. Und sie weiß von den Freu-
den und den Gefahren des Lebens bis heute offenbar so wenig
wie ihr Verlobter. Das auskömmliche Gehalt, das Sie Gerling
gewähren müssen, wird ihnen wie ein unerschöpflicher Reichtum
vorkommen, und in der ersten Verliebtheit wird er seinen: jungen
Weibchen selbstverständlich die Zügel etwas locker lassen. Ich
wette, daß ihr nach einen: halben Jahre die Rückkehr in die alten
Am Sonnlagmorgen. Rach einem Gemälde von Adolf Lind.
4. 4922.