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56

Das Buch fü r Alle

Heft 4

Beate, Gesellschaft leistete, anfänglich glaubte, nicht recht gehört
zu haben. Sie fragte deshalb zaghaft, um sich darüber Gewißheit
zu verschaffen: aber Frau Edith wiederholte ihr Verlangen so
bestimmt, daß jeder Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihres Vor-
habens schwinden mußte. Da regte sich eine freudige Hoffnung
im Herzen des jungen Mädchens; die Schwester sah in dem Wnnsch
Ediths ein Zeichen beginnender Besserung und wandte sich leb-
haft an oie lautlos im Zimmer tätige Pflegerin: „Wir werden
sofort für einen Wagen sorgen. Das ist doch auch Ihre Meinung,
Schwester Beate?"
Mit ihrem unveränderlichen Lächeln bewegte die Gefragte
sanftverneinend denKopf
und erwiderte halblaut:
„Eine Ausfahrt wäre zu
aufregend für Frau Uh-
toff. Es ist sicher besser,
wenn wir sie zu einem
Spaziergang im Garten
überreden."
Die kranke, die jedes
Wort gehört hatte, fühlte
sich heute körperlich besser.
Eigensinnig beharrte sie
bei ihrem Wunsche.
„Ich will Menschen
sehen und das Leben in
den Straßen. Niemand
hat ein Recht, mir das zu
verwehren. Ich bin doch
keine Gefangene."
„Nein, das bist du ge¬
wiß nicht, liebste Edith!
Und ich kann nicht ein¬
sehen, inwiefern es dir
schaden sollte. Willst du,
daß ich das Auto bestelle
oder lieber einen Wagen?"
„Mir ist diesmal ein
Wagen lieber. Und er soll
recht langsam fahren. Ich
bin so lange nicht mehr
draußen gewesen und
möchte wieder einmal
Menschen sehen. Ich will
die Straßen und Häuser
wiedersehen, an die sich Er¬
innerungen meiner glück¬
lichen Jugend knüpfen."
Als wolle sie den Ein¬
spruch der Pflegeriu dies¬
mal entschlossen nicht be¬
achten, wandte sich Eva ab.
Aber noch ehe sie die
Türe erreicht hatte, fühlte sie Schwester Beatens Hand auf ihrem
Arm.
„Sie können unmöglich die Verantwortung für diesen Einfall
auf sich nehmen, Fräulein Marberg! Jedenfalls darf ich es unter
leinen Umständen unwidersprochen dulden, so lange nicht Herr
Uhtoff seine Einwilligung gegeben hat."
Frau Edith, die von ihrem Ruhebett aufgestanden war, erhob
mit einer befehlenden Gebärde den Arm.
„Ich verbiete dir, Eva, meinen Mann zu fragen. Er würde
nein sagen, wie meine Kerkermeisterin da. Sie wollen mich hier
festhnlten wie einen Kranken in einem Irrenhaus. Aber ich bin
nicht wahnsinnig, und noch habe ich meinen Willen. Wenn du
mich lieb hast, mußt du mir diesmal beistehen."
Eva war auf das äußerste bestürzt. Noch nie, seitdem sie zu der
gemütsleidenden Schwester gerufen worden war, hatte sie etwas
von solcher Auflehnung an ihr wahrgenommen. Geduldig hatte
sie sich in alles gefügt, was die stille Pflegerin, die sich immer auf

die Anordnungen des Arztes zu berufen pflegte, für erlaubt und
gut hielt. Kein Wort der Klage oder des Mißtrauens gegen die
Freundlichkeit ihrer Absichten war je über ihre Lippen gekommen.
Heute aber schien die Schwester völlig verwandelt. Nicht nur in
ihrem Benehmen, sondern auch in ihren: Aussehen. In ihren
Zügen drückten sich eine Spannung und eine Entschlossenheit
aus, die dem vorzeitig alt und welk gewordenen Gesicht fast den
trügerischen Anschein wiederkehrender Jugendkraft gaben, und
ihre sonst in müder Unrast umherschweifenden Augen glänzten.
Eva war an ihre Seite geeilt und hatte sie zärtlich nmschlungen.
„Rege dich doch nicht auf, liebstes Herz! Das alles sind ja nur
Einbilduugen und törichte
Vermutungen, nut denen
du Schwester Beate un-
recht tust. Von Paul gar
nicht zu reden. Soll ich
es dir beweisen?"
„Ich glaube dir nicht."
„Beruhige dich! Ich
will auf der Stelle zu
Paul geheu und ihn: sa-
gen, daß du ausfahren
möchtest. Meine Hand lege
ich dafür ins Feuer, daß
er freudig zustimmt."
Frau Edith sah sie durch-
dringend an. Dann ver-
zog sie die blassen Lip-
pen zu einem höhnischen
Lächeln.
„Also auch du fürchtest
dich vor ihn:? Auch du
wagst es nicht, ohne seine
Erlaubnis zu handeln!
Nun weiß ich gewiß, daß
ich niemand mehr habe,
den: ich vertrauen darf."
Der Vorwurf traf das
junge Mädchen so schwer,
daß ihre Wangen plötz-
lich erglühten. Ihre feine,
schlanke Gestalt gebiete-
risch aufreckend, wandte
sie sich der Pflegerin zu.
„Bitte, Schwester Be-
ate," sagte sie nachdrücklich
befehlend, „sorgen Sie da-
für, daß pünktlich meiner
halben Stunde ein be-
quemer Zweispänner zur
Stelle ist. Sie hören, daß
meine Schwester es so
wünscht. Wenn sie kräftig
genug ist, einen Spaziergang in: Garten zu machen, kann sie
ohne Gefahr auch eine Ausfahrt unternehmen. Die vorherige
Genehmigung des Herrn Uhtoff brauchen Sie nicht einzuholen.
Ich nehme alle Verantwortung auf mich."
Ohne ein Wort der Erwiderung verließ die Pflegerin das
Zimmer.
Frau Edith nahm den Kopf der Schwester zwischen beide Hände
und küßte sie auf die Stirn.
„Vergib nur, Kind! Ich würde es ja verstehen, wenn du Angst
vor Paul hättest. Ich fürchte mich vor ihm."
Mit zärtlichen Worten, denen sie einen scherzenden Klang zu
geben versuchte, bemühte sich Eva, die Schwester auf andere
Vorstellungen zu lenken, indem sie erklärte, daß Edith sich dann
aber auch für oie Ausfahrt umkleiden müsse, und daß sie ihr selbst-
verständlich wie eine Kammerzofe helfen werde. Willig ließ die
junge Frau die Geschäftige gewähren, die aus einen: der an-
stoßenden Zimmer nach und nach alles herbeiholte, damit ihre



Hungernde russische Flüchtlinge aus Turkestan auf dem Wege nach der Ukraine.
Ein Lager hungernder Flüchtlinge au: Ufer der Wolga.
 
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