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HO 5 Illustrierte Familienzcitung lyr:

Neue Moral
Roman von Reinhold Orlinann / Fortsetzung
''üulein Niarboths leicht hingeworfene Worte versetzten Loni
Starringer in große Erregung. Heftig fragte sie: „Mein
Bruder? — Was wissen Sie davon? Wie können Sie sich
etwas so Abscheuliches ausdenken?"
„Ich denke mir gar nichts aus. Was ich sage, kann ich auch
beweisen. Ich wollte ja nicht darüber sprechen, aber wenn Sie
sich mir gegenüber auf ein so hohes Rotz setzen, brauche ich mich
auch nicht zu ducken. Es scheint mir übrigens, datz mein Karl
an Ihrem Bruder einen Narren gefressen hat, sonst würde er den
faden jungen Studenten nicht immer mit sich Herumschleppen.
Jeden Abend verbringt Herr Leopold Starringer in seiner Gesell-
schaft — natürlich immer auf Karls Kosten, denn er hat ja nie
einen Pfennig in der Tasche. Und Ihr Bruder weiß jedenfalls
noch viel besser als ich, woher das Geld stammt, das andere für
ihn ausgeben. Datz er sich dadurch in seinem Gewissen irgendwie
bedrückt fühlt, konnte ich bis jetzt allerdings nicht bemerken, er
ist sogar immer der Wildeste und Ausgelassenste von allen."
Loni satz betroffen da. Ihre Glieder waren plötzlich bleischwer,

und sie mutzte ihre ganze Willenskraft aufbieten, um nicht in
Tränen auszubrechen. Keinen Augenblick zweifelte sie an der
Wahrheit der Worte, die ihr Fräulein Marboth in gehässiger
Gereiztheit ins Gesicht schleuderte, und sie fühlte sich so tief be-
schämt, datz sie sich am liebsten in irgend einen Winkel verkrochen
Hütte.
Mit sichtlicher Genugtuung beobachtete Fräulein Marboth die
Wirkung ihrer Worte. Sie hatte sich für die hochmütige Zurecht-
weisung auf ihre Art gerächt und glaubte sich nichts mehr zu ver-
geben, wenn sie nun wieder etwas sanftere Töne anschlug.
„Ich für meinen Teil kann darin etwas so Schreckliches nicht
finden. Nach allem, was er gelegentlich darüber äutzert, scheint
der arme Junge zu Haus wirklich zu knapp gehalten zu werden.
Seine Eltern, besonders der Vater, seien so altmodisch und be-
schränkt."
„Hat Leopold Ihnen das gesagt?" fragte Loni.
„Ja, zuweilen, wenn er ein bitzchen zuviel getrunken hat,
schüttet er mir sein Herz aus. Weil man mich in diesem zwang-
losen Kreise nie anders als nut meinem Vornamen anredet, hat
er keine Ahnung davon, datz ich Ihre Kollegin in der Kanzlei sein
könnte. Er wird sich wundern, wenn er es jetzt von Ihnen erfährt."
Sie konnten ihr Gespräch nicht fortsetzen, weil der Büro-


Hollandischer Fischmarkl. Nach einem Gemälde von Prof. Hans Herrmann.
 
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