Heft? Illustrierte Familienzeitung 1922
Neue Moral
Roman von Reinhold Orlmann / Fortsetzung
va hatte die Schwester an das Ruhebett gezogen, auf dessen
Rand sie nun innig umschlungen sahen. „Wer dürfte dich
hindern, Edith, mir etwas mitzuteilen? Mich aber wirst du
sehr glücklich machen, wenn du mir dein Vertrauen schenkst."
Traurig verneinend bewegte die junge Frau den Kopf.
„Ach nein, glücklich mache ich dich damit gewiß nicht. Denn was
ich dir zu sagen habe, ist tieftraurig. Du darfst mir glauben, daß
ich dich viel lieber damit verschont hätte, denn ich wollte dir jede
Aufregung und seelischen Kummer ersparen. Nun aber wäre es
ebenso unklug wie unrecht, zu schweigen. Auch kann ich es nicht länger
für mich behalten. Ich muß dir alles bekennen, nur die Last vom
Herzen reden, sonst fürchte ich, den Verstand zu verlieren."
Sie strich sich hastig mit der Hand über die Stirn. Es war eine
unwillkürlich heftige Bewegung, als wolle sie etwas Häßliches
oder Schreckliches fortwischen. Eva fühlte durch das leichte Nacht-
gewand die Schauer, die über den Körper der erregten Schwester
liefen, und zog sie noch fester an sich. Zärtlich an sie geschmiegt,
sprach sie leise und eindringlich: „Alles sollst du mir sagen, liebe
Edith! Nichts sollst du vor mir verbergen. Ich würde mich mm
grämen, wenn du mir dein Vertrauen entziehst."
Die junge Frau näherte ihren Mund dem Ohr der Schwester
und flüsterte kaum hörbar: „Ich habe einen Toten gesehen, Eva!
Leibhaft und lebendig habe ich ihn vor mir gesehen, obwohl er
seit Jahren in Rußland begraben liegt."
An der Quelle. Nach einein Gemälde von Wilhelm Auberlen.
7. 1922.
Neue Moral
Roman von Reinhold Orlmann / Fortsetzung
va hatte die Schwester an das Ruhebett gezogen, auf dessen
Rand sie nun innig umschlungen sahen. „Wer dürfte dich
hindern, Edith, mir etwas mitzuteilen? Mich aber wirst du
sehr glücklich machen, wenn du mir dein Vertrauen schenkst."
Traurig verneinend bewegte die junge Frau den Kopf.
„Ach nein, glücklich mache ich dich damit gewiß nicht. Denn was
ich dir zu sagen habe, ist tieftraurig. Du darfst mir glauben, daß
ich dich viel lieber damit verschont hätte, denn ich wollte dir jede
Aufregung und seelischen Kummer ersparen. Nun aber wäre es
ebenso unklug wie unrecht, zu schweigen. Auch kann ich es nicht länger
für mich behalten. Ich muß dir alles bekennen, nur die Last vom
Herzen reden, sonst fürchte ich, den Verstand zu verlieren."
Sie strich sich hastig mit der Hand über die Stirn. Es war eine
unwillkürlich heftige Bewegung, als wolle sie etwas Häßliches
oder Schreckliches fortwischen. Eva fühlte durch das leichte Nacht-
gewand die Schauer, die über den Körper der erregten Schwester
liefen, und zog sie noch fester an sich. Zärtlich an sie geschmiegt,
sprach sie leise und eindringlich: „Alles sollst du mir sagen, liebe
Edith! Nichts sollst du vor mir verbergen. Ich würde mich mm
grämen, wenn du mir dein Vertrauen entziehst."
Die junge Frau näherte ihren Mund dem Ohr der Schwester
und flüsterte kaum hörbar: „Ich habe einen Toten gesehen, Eva!
Leibhaft und lebendig habe ich ihn vor mir gesehen, obwohl er
seit Jahren in Rußland begraben liegt."
An der Quelle. Nach einein Gemälde von Wilhelm Auberlen.
7. 1922.