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H-f,8 Illustrierte Familienzeitung 1922


Neue Moral
Roman von Reinhold Ortmann / Fortsetzung
dith seufzte auf. „Mit Grauen entsinne ich mich nur des
Tages auf unserer Hochzeitsreise, wo Paul zum erstenmal
wagte, mir sein wahres Gesicht zu zeigen. Alle seine heiligen
Schwüre waren in nichts zerstoben; herrisch machte er seine Rechte
geltend und forderte von mir die Erfüllung meiner Pflichten. An
jenem Abend lernte ich ihn tief verabscheuen und verachten. Und
seit jenem Abend überfällt mich ein Schauder bei seinem Anblick.
Schwester Beate sagt, meine Krankheit habe mit einem heftigen
Nervenanfall begonnen, den ich auf meiner Hochzeitsreise erlitt.

Und wenn ich auch keine völlig klare und ungetrübte Erinnerung
an jenen Anfall behalten habe, so weiß ich doch sehr gut, wann
er mich befallen haben muß. Was ich dann noch erlebte, spielte
sich ab wie im Traum. Ich sah zwar die Menschen, die mich um-
gaben, und hörte auch, was sie sprachen. Aber es schienen doch
nur schattenhafte Gestalten, und ihre Reden klangen mir fremd
und gleichgültig ins Ohr. Selbst als man mich dann an das Sterbe-
lager unseres Vaters führte, faßte ich kaum etwas von der Traurig-
keit des Vorganges und der wahren Größe meines Verlustes.
Vom Fenster aus sah ich zu, wie sie den Sarg hinaustrugen; aber
ich darf wohl ohne Übertreibung sagen, daß ich keine Träne ver-
gossen habe. Ich empfand in meinem verwirrten Gemüt nur das
eine unüberwindliche Verlangen, allein zu sein; ängstliche Scheu



Großvater versieht'sl
8. 1922.

Nach einem Gemälde von Otto Kirberg.
 
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