Das Buch für Alle
Heft 8
vor allen menschlichen Gesichtern quälte mich. Und zu allem kam
die entsetzliche ständige Furcht vor dem Wiedersehen mit dem
Mann, der sich meinen Gatten nannte. Dann kamst du wieder
zu uns, Eva! Und seit du im Hause bist, berührte mich doch wieder-
ein Hauch des Lebens, vor dein ich mich zitternd so lange abseits
gehalten hatte. Wenn du bei mir warst, fühlte ich mich freier
und sicherer. Meine Gedanken wurden klarer, und zuweilen kam
es sogar über mich wie unbestimmte Sehnsucht nach einer Rück-
kehr in die Welt, in der ich einst glücklich gewesen war."
Längst hatte Eva es aufgegeben, gegen die innere Erschütterung
und die mühsam zurückgehaltenen Tränen anzukämpfen, die sich
ihr immer heiszer in die Augen drängten. Still weinend lauschte
sie mit gesenktem Kopf der halblauten, langsamen, stellenweise
fast visionären Erzählung der Schwester. Und nun war sie es,
Ende sich im Halsausschnitt ihres Nachtgewandes verlor. Dann
brachte sie ein glattes goldenes Medaillon zum Vorschein, auf
dem als einziger Zierat eine Perle schimmerte. Sie öffnete die
Kapsel und hielt sie vor die Augen der Schwester.
Eva sah ein schönes, ausdrucksvolles Männergesicht, und ein
ungewisses Erinnern dämmerte bei seinem Anblick in ihr auf.
Irgendwo mutzte sie dies Antlitz schon gesehen haben, nur wutzte
sie im Augenblick nicht, wo und wann es gewesen sein konnte.
Im Bann des wirklichen oder vermeintlichen wunderbaren Er-
lebnisses ihrer Schwester fragte sie: „Wo willst di: ihn heute
gesehen haben, Edith? Hilf mir, datz auch ich mich vielleicht darauf
besinne!"
„Erinnerst du dich, datz unser Wagen halten mutzte, weil irgend
ein Hindernis ihm im Wege war? Da stand er plötzlich vor mir.
ovpyUiM v.) F,-»nz Münzen.
Dle Nachlrunde. Nack) eimm Gemälde von C. Sp-tzweg.
die, überwältigt vom Schmerz eines grenzenlosen Mitleids, ihr
Gesicht an Ediths Schulter barg.
„Liebste! Ärmste!" stammelte sie. „Könnte ich dir doch
helfen!"
„Vielleicht kannst du es. Ich sagte dir ja, weshalb ich mich ver-
trauensvoll zu dir geflüchtet habe. Ich bin ja zu schwach und
hilflos, das furchtbare Rätsel zu lösen. Du aber bist jung und
stark. Und es graut dir nicht vor Gespenstern. Glaubst du über-
haupt an Geister, Eva? An die Möglichkeit, datz ein Gestorbener
wiederzukehren vermag?"
Unter Tränen antwortete das junge Mädchen: „Nein, Edith!
Nein! Und auch du darfst solche Gedanken nicht Macht über dich
gewinnen lassen."
Je heftiger die Erregung ihrer jungen Schwester ausbrach, desto
ruhiger schien seltsamerweise die Kranke zu werden.
„Ich bin auch nie abergläubisch gewesen," erwiderte sie in
merkwürdig schleppendem Tonfall. „Niemals — bis auf den heu-
tigen Tag. Aber ich habe ihn doch leibhaftig vor mir gesehen —
genau so, wie er mich aus diesem Bilde unzähligemal angeschaut
hat, seit ich ihn verlor."
Sie begann an einem langen feinen Kettchen zu nesteln, dessen
Hart am Rande des Fahrweges an der Seite eines hübschen
jungen Mädchens. Sage nicht, datz eine äußerliche Ähnlichkeit
mich getäuscht hat! Diesen Kopf und diese ragende Gestalt gab
es nur einmal auf Erden. Wenn es nicht Gerhard Randolf war,
so ist es sein Geist gewesen."
Eva sann eine Weile nach. Ja, diesen reckenhaften, die ganze
Umgebung überragenden Mann nut dem ungewöhnlich klugen
und edlen Gesicht hatte auch sie gesehen, als sie bei Ediths gellen-
dem Aufschrei umhergesehen hatte, um die Ursache des Schreckens
zu erkunden. Gewiß war es nur ein flüchtiger Augenblick gewesen,
währenddessen sie die Gestalt gesehen hatte, und vielleicht schon
morgen oder übermorgen wäre die schattenhafte Erinnerung ganz
aus ihrem Gedächtnis getilgt gewesen. Jetzt aber, nach dem An-
blick des Lichtbildes, stand das Gesicht zu ihrem höchsten Erstaunen
wieder ganz klar vor ihr. Und wenn sie auch noch immer an eine
zufällige Ähnlichkeit glaubte, begriff sie doch den Irrtum der
Schwester, ohne ihn länger für eine bloße Wahnvorstellung zu
halten.
„Es gibt keinen Zweifel, datz Doktor Randolf wirklich gefallen
ist?" wagte sie zaghaft zu fragen. „Sein Tod ist dir auch von
anderer Seite bestätigt worden?"
Heft 8
vor allen menschlichen Gesichtern quälte mich. Und zu allem kam
die entsetzliche ständige Furcht vor dem Wiedersehen mit dem
Mann, der sich meinen Gatten nannte. Dann kamst du wieder
zu uns, Eva! Und seit du im Hause bist, berührte mich doch wieder-
ein Hauch des Lebens, vor dein ich mich zitternd so lange abseits
gehalten hatte. Wenn du bei mir warst, fühlte ich mich freier
und sicherer. Meine Gedanken wurden klarer, und zuweilen kam
es sogar über mich wie unbestimmte Sehnsucht nach einer Rück-
kehr in die Welt, in der ich einst glücklich gewesen war."
Längst hatte Eva es aufgegeben, gegen die innere Erschütterung
und die mühsam zurückgehaltenen Tränen anzukämpfen, die sich
ihr immer heiszer in die Augen drängten. Still weinend lauschte
sie mit gesenktem Kopf der halblauten, langsamen, stellenweise
fast visionären Erzählung der Schwester. Und nun war sie es,
Ende sich im Halsausschnitt ihres Nachtgewandes verlor. Dann
brachte sie ein glattes goldenes Medaillon zum Vorschein, auf
dem als einziger Zierat eine Perle schimmerte. Sie öffnete die
Kapsel und hielt sie vor die Augen der Schwester.
Eva sah ein schönes, ausdrucksvolles Männergesicht, und ein
ungewisses Erinnern dämmerte bei seinem Anblick in ihr auf.
Irgendwo mutzte sie dies Antlitz schon gesehen haben, nur wutzte
sie im Augenblick nicht, wo und wann es gewesen sein konnte.
Im Bann des wirklichen oder vermeintlichen wunderbaren Er-
lebnisses ihrer Schwester fragte sie: „Wo willst di: ihn heute
gesehen haben, Edith? Hilf mir, datz auch ich mich vielleicht darauf
besinne!"
„Erinnerst du dich, datz unser Wagen halten mutzte, weil irgend
ein Hindernis ihm im Wege war? Da stand er plötzlich vor mir.
ovpyUiM v.) F,-»nz Münzen.
Dle Nachlrunde. Nack) eimm Gemälde von C. Sp-tzweg.
die, überwältigt vom Schmerz eines grenzenlosen Mitleids, ihr
Gesicht an Ediths Schulter barg.
„Liebste! Ärmste!" stammelte sie. „Könnte ich dir doch
helfen!"
„Vielleicht kannst du es. Ich sagte dir ja, weshalb ich mich ver-
trauensvoll zu dir geflüchtet habe. Ich bin ja zu schwach und
hilflos, das furchtbare Rätsel zu lösen. Du aber bist jung und
stark. Und es graut dir nicht vor Gespenstern. Glaubst du über-
haupt an Geister, Eva? An die Möglichkeit, datz ein Gestorbener
wiederzukehren vermag?"
Unter Tränen antwortete das junge Mädchen: „Nein, Edith!
Nein! Und auch du darfst solche Gedanken nicht Macht über dich
gewinnen lassen."
Je heftiger die Erregung ihrer jungen Schwester ausbrach, desto
ruhiger schien seltsamerweise die Kranke zu werden.
„Ich bin auch nie abergläubisch gewesen," erwiderte sie in
merkwürdig schleppendem Tonfall. „Niemals — bis auf den heu-
tigen Tag. Aber ich habe ihn doch leibhaftig vor mir gesehen —
genau so, wie er mich aus diesem Bilde unzähligemal angeschaut
hat, seit ich ihn verlor."
Sie begann an einem langen feinen Kettchen zu nesteln, dessen
Hart am Rande des Fahrweges an der Seite eines hübschen
jungen Mädchens. Sage nicht, datz eine äußerliche Ähnlichkeit
mich getäuscht hat! Diesen Kopf und diese ragende Gestalt gab
es nur einmal auf Erden. Wenn es nicht Gerhard Randolf war,
so ist es sein Geist gewesen."
Eva sann eine Weile nach. Ja, diesen reckenhaften, die ganze
Umgebung überragenden Mann nut dem ungewöhnlich klugen
und edlen Gesicht hatte auch sie gesehen, als sie bei Ediths gellen-
dem Aufschrei umhergesehen hatte, um die Ursache des Schreckens
zu erkunden. Gewiß war es nur ein flüchtiger Augenblick gewesen,
währenddessen sie die Gestalt gesehen hatte, und vielleicht schon
morgen oder übermorgen wäre die schattenhafte Erinnerung ganz
aus ihrem Gedächtnis getilgt gewesen. Jetzt aber, nach dem An-
blick des Lichtbildes, stand das Gesicht zu ihrem höchsten Erstaunen
wieder ganz klar vor ihr. Und wenn sie auch noch immer an eine
zufällige Ähnlichkeit glaubte, begriff sie doch den Irrtum der
Schwester, ohne ihn länger für eine bloße Wahnvorstellung zu
halten.
„Es gibt keinen Zweifel, datz Doktor Randolf wirklich gefallen
ist?" wagte sie zaghaft zu fragen. „Sein Tod ist dir auch von
anderer Seite bestätigt worden?"