Heft 8
Das B u ch f n r Alle
129
In der Korbflechterei.
Schwestern und Pfleglinge bei der Gartenarbeit.
„aufgeklärten" Staaten und Kreisen herrscht die „praktische" Anschauung,
daß es besser sei, sich um Krüppel und Schwachsinnige nicht zu kümmern,
ja man fordert, daß sie irgendwie „beseitigt" werden müßten, da sie ja
doch nur ein „nationaler Schaden", brutal ausgedrückt „unnütze Fresser"
seien.
Die rohmaterialistische „Korrektur der Natur", der dummbrutale Ver-
nichtungswille, alle Untauglichen zu „beseitigen", ist jedoch noch nicht überall
in der Welt Trumpf. Meist sind es überdies Schwächlinge, die nach Gewalt-
anwendung schreien. Der gesunde, starke Mensch ist gütig und barmherzig;
er mutz die Schwachen betreuen, die Elenden stützen. Einem Uberschuß
an Kraft entspringt seine Hilfsbereitschaft. Der schwächlichen Ohnmacht der
Gleichgültigen und Zerstörer steht er mit der Übermacht seiner Natur
gegenüber, auf dem Gipfel der Macht, der die Güte ist.
Herzerhebend wirkt es, eine Stätte kennenzulernen, an der alle Hilflosen
und Elenden ein Heim und menschliche Behandlung finden. Die Wohl-
tätigkeitsanstalten in Ursberg sind das Werk eines Mannes, der den Ärmsten
unter den Menschen aus ihrer Not geholfen hat, der sie vor der Gefahr des
Vertierens errettete. Ein solcher Mann der Tat, ein großer Uneigen-
nütziger ist mehr als ein Heer doktrinärer Schreier. Ein schwäbischer Bauern-
sohn, Dominikus Ringeisen, der am 6. Dezember 1835 in Unterfinningen
als Kind einfacher Söldnersleute geboren wurde, hat in Ursberg eine Wohl-
tätigkeitsanstalt gegründet, die heute die größte und eigenartigste dieser
Art neben Pastor Bodelschwinghs Schöpfung
in Bethel bei Bielefeld ist. Ringeisen lernte
als Benefiziat die Not der armen Hilfsbe¬
dürftigen kennen, die, wegen körperlicher
oder geistiger Gebrechen der Pflege dringend
bedürftig, mangels ausreichender Anstalten
im Elend verkommen mußten. Als Pfarrer
erwarb er mit erbetteltem Geld 1884 das
alte Prämonstratenserkloster Ursberg, das der
Staat damals verkaufen wollte; im gleichen
Jahre nahm er die ersten vier Pfleglinge auf.
Ein Mannesalter hindurch kämpfte er hart
und schwer, mit fast unfaßbarer Zähigkeit und
unbeugsamer Tatkraft um den Sieg seines
großen Werkes. In Ursberg sollten die Aller¬
ärmsten der Armen, die man in Spezial¬
anstalten nicht aufnahm, da sie an doppelten
und dreifachen Gebrechen leiden, eine Stätte
finden. Alles, was heute in Ursberg steht, ist
größtenteils aus freiwilligen Gaben entstan¬
den, was der Staat jährlich dazugab, reichte
knapp, um 2395 Menschen, die dort und in
den zwölf Filialen leben, einmal ein Mittag¬
essen zu bieten. Werktätige kleine Leute haben
mit ihrem Opsersinn diese Anstalt gehalten.
Seit 1885 vermehrte stch die Zahl der Pfleg¬
linge ums Einundfünfzigfache; heute ist Urs¬
berg mit allem, was dazu gehört, eine kleine
Landstadt. Ringeisen beharrte darauf, daß
die Anstalt mit einer so großen Landwirtschaft
verbunden sein müsse, um in normalen Zeiten
die Ernährung aller Insassen zu sichern. Als er
1884 Ursberg erwarb, waren nur 26 Tagwerk Grund vorhanden; heute
umfaßt der gesamte Grundbesitz 2340 Tagwerk.
Bis zum Jahre 1897 bemühte sich Ringeisen, irgend einen katholischen
Orden für die Pflege in Ursberg zu gewinnen. Endlich versuchte er, eine
eigene Kongregation zu gründen, was ihm nach Überwindung großer
Schwierigkeiten gelang. Am 19. März 1897 konnten die ersten hundert-
vierzehn Josephsschwestern eingekleidet und im Mutterhaus weitere zu
ihrem entsagungsvollen Beruf herangebildet werden. Und diese Schwestern
bewältigen die vielgestaltige Arbeit allein. Es sind 143 Anstaltspflege-
rinnen nötig, in den Küchen wirtschaften 61 Schwestern, 121 besorgen
Hausarbeit, 62 sind als Lehrerinnen tätig, in der Landwirtschaft 177 und
80 im Gewerbe. Zur ambulanten Krankenpflege sind 56 Schwestern vor-
handen. Das Anstaltskrankenhaus hat 140 Betten.
Ursberg ist Unterrichts- und Versorgungsanstalt für Schwächst n-
nige beiden Geschlechts. Hilflose Wesen, die nie selbständig geworden sind
und es nie werden können, beschäftigt man in angemessener Weise und ver-
sorgt sie fürs Leben. So geschieht es auch mit T a u b st u m m e n, die
man schult und einem Handwerk zufühct, so daß sie auch draußen in der
Welt sich behaupten können. Epileptische finden dort Versorgung
und Pflege. Im Jahre 1914 befanden sich allein von diesen Unglücklichen
125 in Ursberg. Dazu kommen noch die K r ü p p e l h a f t e n, solche, die
Hände oder Füße nicht gebrauchen können, und Gelähmte, die bei allen
Verrichtungen Hilfe und Pflege bedürfen.
K. Rupprecht, ein guter Kenner der Anstalt,
schreibt: „Wer in den Schulen die armseligen
Geschöpfe von Kindern sieht, die blöden,
stumpfen Eesichtszüge, die ausdruckslos irren-
den Augen, die läppischen, verzerrten Bewe-
gungen der Glieder, das Lallen und Krei-
schen, Geifern und Schäumen, das aus dem
Mund dieser Kinder kommt, der glaubt nicht,
daß hier je wieder ein Funke menschlichen
Geistes entfacht, Worte und Verstehen geweckt
werden könnten." Entsagungsvoll mühen sich
die Schwestern Jahr um Jahr, und man gibt
die Hoffnung erst dann auf, wenn alles ver-
sucht worden ist. Spielend wird den Armen
die Freude an der Arbeit anerzogen, bis die
einzelnen fähig sind» einem Gewerbe oder
irgend einer Tätigkeit zugeführt zu werden.
Es sind zur Zeit 49 Werkstätten vorhanden, die
mit der Landwirtschaft 63 Betriebe umfassen.
Und der große Segen der Arbeit schafft auch
diesen Elenden Glück. Durch Arbeit werden
gesundheitliche, erzieherische und wirtschaft-
liche Absichten erreicht; die großzügig durch-
geführte Pfleglingsarbeit erweist sich als un-
ersetzliches Heil- und Erziehungsmittel. Jeder
Pflegling, der in der Anstalt zur Tätigkeit er-
zogen wird, entwickelt sich selbst wieder zu
ihrem Stützer durch seine eigene Arbeit. Auch
darin bewies Ringeisen seinen tlaren Blick,
daß nur große Anstalten, tue genügenden
Eigenbedarf haben, diesen gesunden Gedanken
In der Bierbrauerei.
Das B u ch f n r Alle
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In der Korbflechterei.
Schwestern und Pfleglinge bei der Gartenarbeit.
„aufgeklärten" Staaten und Kreisen herrscht die „praktische" Anschauung,
daß es besser sei, sich um Krüppel und Schwachsinnige nicht zu kümmern,
ja man fordert, daß sie irgendwie „beseitigt" werden müßten, da sie ja
doch nur ein „nationaler Schaden", brutal ausgedrückt „unnütze Fresser"
seien.
Die rohmaterialistische „Korrektur der Natur", der dummbrutale Ver-
nichtungswille, alle Untauglichen zu „beseitigen", ist jedoch noch nicht überall
in der Welt Trumpf. Meist sind es überdies Schwächlinge, die nach Gewalt-
anwendung schreien. Der gesunde, starke Mensch ist gütig und barmherzig;
er mutz die Schwachen betreuen, die Elenden stützen. Einem Uberschuß
an Kraft entspringt seine Hilfsbereitschaft. Der schwächlichen Ohnmacht der
Gleichgültigen und Zerstörer steht er mit der Übermacht seiner Natur
gegenüber, auf dem Gipfel der Macht, der die Güte ist.
Herzerhebend wirkt es, eine Stätte kennenzulernen, an der alle Hilflosen
und Elenden ein Heim und menschliche Behandlung finden. Die Wohl-
tätigkeitsanstalten in Ursberg sind das Werk eines Mannes, der den Ärmsten
unter den Menschen aus ihrer Not geholfen hat, der sie vor der Gefahr des
Vertierens errettete. Ein solcher Mann der Tat, ein großer Uneigen-
nütziger ist mehr als ein Heer doktrinärer Schreier. Ein schwäbischer Bauern-
sohn, Dominikus Ringeisen, der am 6. Dezember 1835 in Unterfinningen
als Kind einfacher Söldnersleute geboren wurde, hat in Ursberg eine Wohl-
tätigkeitsanstalt gegründet, die heute die größte und eigenartigste dieser
Art neben Pastor Bodelschwinghs Schöpfung
in Bethel bei Bielefeld ist. Ringeisen lernte
als Benefiziat die Not der armen Hilfsbe¬
dürftigen kennen, die, wegen körperlicher
oder geistiger Gebrechen der Pflege dringend
bedürftig, mangels ausreichender Anstalten
im Elend verkommen mußten. Als Pfarrer
erwarb er mit erbetteltem Geld 1884 das
alte Prämonstratenserkloster Ursberg, das der
Staat damals verkaufen wollte; im gleichen
Jahre nahm er die ersten vier Pfleglinge auf.
Ein Mannesalter hindurch kämpfte er hart
und schwer, mit fast unfaßbarer Zähigkeit und
unbeugsamer Tatkraft um den Sieg seines
großen Werkes. In Ursberg sollten die Aller¬
ärmsten der Armen, die man in Spezial¬
anstalten nicht aufnahm, da sie an doppelten
und dreifachen Gebrechen leiden, eine Stätte
finden. Alles, was heute in Ursberg steht, ist
größtenteils aus freiwilligen Gaben entstan¬
den, was der Staat jährlich dazugab, reichte
knapp, um 2395 Menschen, die dort und in
den zwölf Filialen leben, einmal ein Mittag¬
essen zu bieten. Werktätige kleine Leute haben
mit ihrem Opsersinn diese Anstalt gehalten.
Seit 1885 vermehrte stch die Zahl der Pfleg¬
linge ums Einundfünfzigfache; heute ist Urs¬
berg mit allem, was dazu gehört, eine kleine
Landstadt. Ringeisen beharrte darauf, daß
die Anstalt mit einer so großen Landwirtschaft
verbunden sein müsse, um in normalen Zeiten
die Ernährung aller Insassen zu sichern. Als er
1884 Ursberg erwarb, waren nur 26 Tagwerk Grund vorhanden; heute
umfaßt der gesamte Grundbesitz 2340 Tagwerk.
Bis zum Jahre 1897 bemühte sich Ringeisen, irgend einen katholischen
Orden für die Pflege in Ursberg zu gewinnen. Endlich versuchte er, eine
eigene Kongregation zu gründen, was ihm nach Überwindung großer
Schwierigkeiten gelang. Am 19. März 1897 konnten die ersten hundert-
vierzehn Josephsschwestern eingekleidet und im Mutterhaus weitere zu
ihrem entsagungsvollen Beruf herangebildet werden. Und diese Schwestern
bewältigen die vielgestaltige Arbeit allein. Es sind 143 Anstaltspflege-
rinnen nötig, in den Küchen wirtschaften 61 Schwestern, 121 besorgen
Hausarbeit, 62 sind als Lehrerinnen tätig, in der Landwirtschaft 177 und
80 im Gewerbe. Zur ambulanten Krankenpflege sind 56 Schwestern vor-
handen. Das Anstaltskrankenhaus hat 140 Betten.
Ursberg ist Unterrichts- und Versorgungsanstalt für Schwächst n-
nige beiden Geschlechts. Hilflose Wesen, die nie selbständig geworden sind
und es nie werden können, beschäftigt man in angemessener Weise und ver-
sorgt sie fürs Leben. So geschieht es auch mit T a u b st u m m e n, die
man schult und einem Handwerk zufühct, so daß sie auch draußen in der
Welt sich behaupten können. Epileptische finden dort Versorgung
und Pflege. Im Jahre 1914 befanden sich allein von diesen Unglücklichen
125 in Ursberg. Dazu kommen noch die K r ü p p e l h a f t e n, solche, die
Hände oder Füße nicht gebrauchen können, und Gelähmte, die bei allen
Verrichtungen Hilfe und Pflege bedürfen.
K. Rupprecht, ein guter Kenner der Anstalt,
schreibt: „Wer in den Schulen die armseligen
Geschöpfe von Kindern sieht, die blöden,
stumpfen Eesichtszüge, die ausdruckslos irren-
den Augen, die läppischen, verzerrten Bewe-
gungen der Glieder, das Lallen und Krei-
schen, Geifern und Schäumen, das aus dem
Mund dieser Kinder kommt, der glaubt nicht,
daß hier je wieder ein Funke menschlichen
Geistes entfacht, Worte und Verstehen geweckt
werden könnten." Entsagungsvoll mühen sich
die Schwestern Jahr um Jahr, und man gibt
die Hoffnung erst dann auf, wenn alles ver-
sucht worden ist. Spielend wird den Armen
die Freude an der Arbeit anerzogen, bis die
einzelnen fähig sind» einem Gewerbe oder
irgend einer Tätigkeit zugeführt zu werden.
Es sind zur Zeit 49 Werkstätten vorhanden, die
mit der Landwirtschaft 63 Betriebe umfassen.
Und der große Segen der Arbeit schafft auch
diesen Elenden Glück. Durch Arbeit werden
gesundheitliche, erzieherische und wirtschaft-
liche Absichten erreicht; die großzügig durch-
geführte Pfleglingsarbeit erweist sich als un-
ersetzliches Heil- und Erziehungsmittel. Jeder
Pflegling, der in der Anstalt zur Tätigkeit er-
zogen wird, entwickelt sich selbst wieder zu
ihrem Stützer durch seine eigene Arbeit. Auch
darin bewies Ringeisen seinen tlaren Blick,
daß nur große Anstalten, tue genügenden
Eigenbedarf haben, diesen gesunden Gedanken
In der Bierbrauerei.