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Heft i2 Illustrierte Familienzeitung 1922


Neue Moral
Roman von Reinhold Ortmann / Fortsetzung
ach einer kleinen Weile überholte Gerling den langsam
dahinschreitenden Mann, in dessen Gesellschaft Leopold
Starringer gewesen war. Im Vorbeigehen begegneten
sich ihre Blicke, und der Mann lüftete grüßend seinen Hut. Nun
wußte Gerling auch, daß es einer von Michael Starringers
Untergebenen, der Oberwachtmeister Seideneder, war, mit dem
Lonis Vater ihn einmal flüchtig bekannt gemacht hatte. An seiner
Unterhaltung mit dem Sohne des Kommissärs konnte er nichts
Befremdliches finden, und ein paar Minuten später wurden seine
Gedanken durch eine andere Begegnung abgelenkt, die ihn viel
mehr überraschte und geradezu in Erstaunen setzte. Auf der Stiege
des Starringerschen Hauses traf er mit seinem Vetter Stemmler
zusammen, der eben aus der Wohnung des Kommissärs zu kom-
men schien, und hinter dessen verbindlichem Lächeln sich beim
Anblick Gerlings eine gewisse Verlegenheit nur notdürftig ver-
barg.
„Ich habe mir erlaubt, deiner Verlobten einen kurzen Besuch
abzustatten," sagte Stemmler, einer Frage zuvorkommend, „weil

ich mich verpflichtet fühlte, ihr während deiner Abwesenheit meine
Dienste anzubieten. Du wirst mir, wie ich hoffe, erlauben, ihr
durch einige harmlose kleine Zerstreuungen über die für eine
Braut gewiß sehr schmerzliche Zeit der Trennung hinwegzu-
helfen."
„Das ist gewiß sehr gut gemeint; aber, wie ich Loni kenne,
glaube ich kaum, daß sie sich gerade während meines Fernseins
nach Zerstreuungen sehnt."
„Du hast eben noch keinen rechten Begriff von den Bedürf-
nissen eines jungen weiblichen Wesens. Jedenfalls hat mir Fräu-
lein Starringer erlaubt, sie morgen in die Oper zu führen."
Gerling unterdrückte die unmutige Erwiderung, die sich ihm
hatte auf die Lippen drängen wollen, und machte sich mit einigen
gezwungen gleichgültigen Worten von Stemmler los. Seine Ver-
drießlichkeit steigerte sich, als er Loni allein in der Wohnung an-
traf, weil, wie sie ihm sagte, ihre Mutter ausgegangen war, um
Besorgungen zu erledigen. Gerling erwartete, daß sie ihm gleich
von dem Besuch seines Vetters erzählen würde, aber sie tat es
nicht, und er gewann aus ihrem sonderbar zerstreuten, unruhigen
Wesen den Eindruck, als ob sein Erscheinen in diesem Augenblick
ihr nicht besonders erfreulich sei. Als er sagte, daß er gekommen
sei, um sich schon jetzt zu verabschieden, weil er am Abend leider


Norwegisches Fischerdorf. Nach einem Originalgemalde von Claus Bergen.
12. 1922.
 
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