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2^6

Das Buch f ü r Alle

Heft

und ab wandernde Chef ihr diktierte. Nun stand Stammers am
offenen Fenster, die Hände in den Jackettaschen, und blickte in
das Gärtchen hinab. Es wurde Herbst; alle Anzeichen deuteten
darauf hin, aber die Sonne schien noch warm und schön.
„Ich glaube, das ist alles, Fräulein Streckert," bemerkte er,
ohne sich umzuwenden. Als er daraufhin ein leises Hantieren
hinter sich vernahm, ging er doch mit wenigen Schritten an seinen
Schreibtisch. „Wir könnten das gleich erledigen," sagte er, zu den
Bewerbungspapieren greifend, die ihm sein Prokurist gegeben.
Er sah flüchtig nach dem Ortsnamen am Kopf jeden Briefes.
„Zwei sind von hier, die lassen wir zur persönlichen Vorstellung
kommen." Er durchflog die Schreiben; ein schneller Blick galt den
beigefügten Photographien, größere Aufmerksamkeit wendete er
den Zeugnisabschriften zu, obwohl Konrad Starnmers ihnen nur-
bedingten Wert beilegte.
Er reichte feiner Mitarbeiterin die beiden Bewerbungen.
„Sie schreiben diesen beiden in gewohntem Sinne. — Und was
machen wir mit dem dritten?" Er nahm das Schriftstück noch
einmal auf. „Auch geeignet," bemerkte er, während er las. „Aber
zu weit weg. Ich sehe die Leute gern, bevor ich sie bei mir auf-
nehme."
Plötzlich fuhr er so heftig zusammen, daß das junge Mädchen
erstaunt aufblickte. Erschrocken sah sie in ein weißes, seltsam totes
Antlitz. Sie erhob sich.
„Ist Ihnen nicht wohl, Herr Starnmers?"
Mühsam gefaßt antwortete er: „Mein Magen! Ich muß einen
Arzt befragen; diese plötzlichen Anfälle häufen sich neuerdings."
Er schien mit einem Entschluß zu kämpfen. „Wir werden diese Be-
werber doch noch nicht kommen lassen, Fräulein Streckert, ich
komme morgen darauf zurück." Er vermied es, den: jungen Mäd-
chen ins Gesicht zu sehen.
Und dann war er allein. Er nahm seine ganze Energie zusammen
und las das dritte Bewerbungsschreiben noch einmal durch. Seine
Augen blieben wie gebannt auf die sauber geschriebene Unter-
schrift gerichtet.
„Bernhard Lübbert! — Gott im Himmel!"
Es war dem Manne, als wanke der Fußboden unter ihm. Im
Flug erinnerte er sich an alles, was zwischen der reiferen Jugend
und den: Jetzt lag und im Lauf der Zeit vergessen worden war;
klar stand alles vor der schmerzvoll aufgewühlten Seele. Ein liebes
blasses Gesicht tauchte auf, traurige Augen, und eine Stimme —
längst verklungen, glaubte er in diesem Augenblick wieder zu
hören: „Verlaß mich nicht!"
Starnmers fuhr zusammen; es war ihm, als habe er diese Worte
deutlich vernommen.
Allmählich kam er wieder zu klaren Gedanken. Er schalt sich
töricht und schwach. Es konnte ja nur eine Übereinstimmung des
Namens sein. Lübbert! Der Name war nicht so selten, hierin
der Stadt gab es am Ende auch Leute, die so hießen. Aber Bern-
hard! So hatte ihr Vater geheißen, der strenge, über den Fehl-
tritt seiner Tochter in Raserei verfallene Mann, der aus Gram
bald darnach gestorben war. Aus diesem Grund mochte die Mutter
den Rufnamen des Großvaters für ihr Kind gewählt haben. Oder
sollte doch alles Zufall sein? — Wieder ergriff er das Papier und
begann noch einmal das Schreiben zu lesen. Da stutzte er. Gleich
zu Anfang des zweiten Absatzes hieß es: „Ich bin geboren am
20. Dezember 189 . ." In einer Anwandlung von Verzweiflung
ließ Stammers das Blatt sinken. Der Tag stimmte. An einem
Septembertag so golden und schön wie der heutige hatten sie
Abschied voneinander genommen; vor vierundzwanzig Jahren.
Durch die geöffneten Fenster drangen die Düfte des Gartens
herein, Reseda und einige späte Rosen. Sie trugen die Gedanken
weit zurück. Es war Frühling. Die ehrgeizigen Pläne eines blut-
jungen Menschen wurden geadelt, in das Reich des Schönen ge-
hoben durch die Liebe, die wie ein Gewittersturm zwei junge
Herzen überfiel. Keine Tändelei! Nein, das war es nicht gewesen!
Der Mann am Schreibtisch sagte es laut, als wolle er sich vor
seinem Gewissen retten. Es war zarteste, innigste Liebe.
Aber dann wurden sie vor furchtbare Ausgaben gestellt, und
die ganze Schwere ihrer Lage ward ihnen bewußt. Er war noch

nicht dreiundzwanzig, ohne feste Existenz, aber voll Unternehmung
und Wagelust; sie neunzehn, in ihrem Wesen ein halbes Kind.
Es kam der Sommer, es kam die Entdeckung.
Konrad Stammers stützte den Kopf in die Hand, schloß die
Augen und erlebte jene Zeit noch einmal mit ihrem Schrecken
und den sich jäh überstürzenden Ereignissen. Der Vater der Ge-
liebten hatte ihn kommen lassen. Der Träumende sah greifbar
diese Gestalt vor sich, in ihrer Größe und dem furchtbaren Zorn
in den Augen. Die ungeheuren Anklagen hatten den jungen Mann
niedergeschmettert, er war sich sündiger vorgekommen als ein reu-
mütiger Mörder. Aber dann war etwas von ihm verlangt worden,
was er nicht hatte zugestehen können. Er sollte neben dem Alten
in dem Papiergeschäft, das er betrieb, arbeiten; als Gehilfe und
Mann seiner Tochter. Neben diesem fürchterlichen Mann, der in
jedem seiner Sätze eine Beleidigung aussprach. Da hatte er sich
in leidenschaftlicher Abwehr aufgebäumt. Nie würde er das tun.
„Nein? — Sie wollen Dora sitzen lassen? Wollen sie entehren
und zum Lump werden?"
„Ich werde Dora heiraten, aber nie hier bleiben."
„Und womit wollen Sie Nichtsnutz und Habenichts sie er-
nähren?"
„Das weiß ich noch nicht."
Ein hartes, höhnisches Lachen folgte.
„Nein, das können Sie grüner Bengel auch noch nicht wissen.
Aber daß ich mein einziges Kind ins Ungewisse ziehen lasse,
glauben Sie wohl selber nicht. Sie werden tun, was ich will,
verstehen Sie?"
Er hatte es nicht getan. Alle Beschwörungen der Geliebten
vermochten ihn nicht so weit zu bringen. Und sie stand zu sehr unter
dem Banne ihres Vaters, ganz ohne eigenen Willen; vielleicht
war sie auch geistig zu unbedeutend. Die hochfliegenden Pläne
des Geliebten waren ihr immer unverständlich gewesen; sie hatte
nie begriffen, wie ein Sohn einfacher Kreise, noch dazu ohne
Eltern, die ihm helfen konnten, sich so weit von der natürlichen
Basis entfernte — wenn vorläufig auch nur in seinen Träumen.
Da hatte er sich entschieden, wenn es ihm auch nicht leicht ge-
fallen war. Mit einem jäh geweckten Verantwortlichkeitsgefühl
ringend, hatte er es nicht über sich gewinnen können, kühne Ge-
danken einzusargen.
Schmerzlich war jener Abschied gewesen, schwer und herb. Noch
einmal hatte er die geliebte Gestalt in seinen Armen gehalten;
ihrem „Verlaß mich nicht" hatte er nichts Tröstlicheres, aber seiner
Meinung nach auch nichts Größeres entgegenhalten können als
das heilige Versprechen, sie zu holen, wenn er ihr eine gesicherte,
von ihrem Vater unabhängige E.ristenz bieten könne. Dann war
er gegangen. Aus der Enge der kleinen Stadt in das Getriebe
der großen Städte, mit immer neuen Enttäuschungen beschwert
und dadurch allmählich abstumpfend gegen feinere Regungen des
Innern. Bis sich dem jungen Manne eine unerhörte Glücks-
möglichkeit bot.
Bis dahin war er sich und seinem gegebenen Versprechen treu
geblieben, nun belud er sich mit Schuld.
Konrad Stammers stöhnte leise, als er daran dachte. Seine
Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ihr war jene Jugend-
torheit ihres Mannes ein Geheimnis und mußte es bleiben. Sie
richtete streng in allen Dingen; sie war die Tochter des reichen
Mannes, als die sie sich vor bald zwanzig Jahren zu dem kleinen
Angestellten der chemischen Fabrik herabgelassen hatte. Es war
immer etwas Fremdes Zwischen ihnen geblieben, trotzdem sie
zwei Kinder besaßen.
Stammers blickte wieder den Namenszug an. Und da spürte
er ein sonderbares Gefühl in sich. Er durste dieser Schwäche uicht
nachgeben, oder es kam zu unübersehbaren Folgen. Aber er ver-
mochte dies unerklärliche Gefühl nicht zu bannen. Er wünschte
den Träger des Namens, der unter dem Bewerbungsschreiben
stand, zu sehen. Nur einmal und flüchtig. Dann wollte er ihn
wieder ziehen lassen. Er wollte dann eine Eristenzmöglichkeit für
ihn ausfindig machen, ohne daß jener wußte, wer ihm den Dornen-
weg des Lebens so leicht machte. Mehr konnte und durfte er
nicht wagen.
 
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