Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2Ü2

Das Buch für Alle

Heft

Sie ist es ja auch gegen ihre eigene Tochter; das gehört zu ihren
Erziehungsgrundsätzen." Er sann eine Weile nach. „Aber ich
möchte doch, daß du persönlich an Justizrat Forster schreibst, damit
nicht etwa der Eindruck erweckt werde, als ob ich Versteck spielte.
Damit wäre dies erledigt. — Aber nun fach mir mal, was geschah
denn bei Brockmöllers, als Herr Schinkel mit euch an ihrem Hause
vorbeifuhr?" Er sah aufmerksam in das frische Gesicht und bemerkte,
daß es rot und Verleger: wurde. „Die volle Wahrheit, Kind, nichts
verschweigen und nichts hinzusetzen, wie es in der Eidesformel
heißt. Ich wollte Hilde vorhin danach fragen, unterließ es aber,
weil ich vermutlich streng hätte richten müssen. Davor hütet dich
das Gastrecht und deine halbe Kenntnis der Zusammenhänge.
Nun, was geschah denn da?" Als das Mädchen schwieg, fragte
Stammers: „Fuhrt ihr langsam an dem Haus vorüber?"
„Ja, ganz langsam."
„Ließ sich bei Brockmöllers niemand am Fenster sehen?"
„Nicht gleich; erst — erst beim dritten Male."
„Bein: dritten Male?" rief Stammers erschrocken. „Ja, unfts
Himmels willen, wie oft hat Herr Schinkel denn diesen Zirkusakt
aufgeführt?"
„Ich weiß nicht genau," antwortete das junge Mädchen klein-
laut; „vielleicht sechs- oder siebenmal."
Stammers wurde schwül zumute. Das war denn doch reichlich
stark.
„So, also beim dritten Male ließ sich jemand blicken. Wer
denn?"
„Fräulein Wilma."
„Ah! — Und was tat Herr Schinkel da? Ich meine, lachte er,
oder benahm er sich sonst auffällig?"
„Nein. Er knallte nur jedesmal, wenn wir an dem Hause
vorüberfuhren, fürchterlich mit der Peitsche."
„Gott bewahre!" dachte Stammers. Ein Skandal, ein regel-
rechter Skandal; die Stadt würde bald voll davon sein.
„Du weißt doch," sagte er rasch, „daß Fräulein Wilma Herrn
Schinkel unlängst einen Korb gegeben hat?"
„Ja, Hilde erzählte es mir."
„Und nun habt ihr dem Verschmähten Statistendienste leisten
müssen. Das ist unglaublich!" stieß er in aufquellendem Zorn
hervor. „Ich werde mit Schinkel reden, ernstlich, das ist gewiß.
Er hätte sich ein halb Dutzend Zigeunerweiber auf seinen Wagen
packen sollen, aber nicht meine Tochter und meine Nichte." Er
hatte das kurz und heftig hervorgestoßen und war dabei einige
Schritte hin und her gegangen; jetzt blieb er stehen und strich sich
mit der Hand übers Gesicht. „Verzeih, mein Kind," sagte er in
gewohntem Tonfall, „aber diese Geschichte hat mich empfindlich
berührt. Das, was ich eben hörte, hatte ich doch nicht erwartet."
Er beugte sich hinab und küßte das junge Mädchen auf die Stirn.
„Geh hinein, Lisa, und leiste Tante Gesellschaft; ich sehe, es wird
gerade in ihren Räumen Licht gemacht. Ich komme auch bald,
will nur noch eben mal bis zur äußersten Einfriedigung des Parks
streifen. Auf Wiedersehen, Kind."
Als Stammers an: nächsten Vormittag den Vortrag seines
Prokuristen entgegennahm, sagte er so beiläufig: „Sie haben wohl
gesehen, daß ich alle drei Bewerber, die Sie vorschlugen, zur Vor-
stellung kommen lasse, lieber Epstein."
„Ja, ich habe die Kopien eingesehen. Ich meine, daß. . ."
„Damit ich es nicht vergesse, Epstein!" unterbrach ihn der Ehef
rasch. „Es ist nicht ausgeschlossen, daß die hier ansässigen Bewerber
schon heute kommen. Sollte ich zufällig nicht hier sein, so lassen
Sie mich, bitte, rufen. Ich will alle sehen, auch den dritten. Sie
wissen: den Auswärtigen."
Der Prokurist sah seinen Prinzipal erstaunt an. Seit wann
kümmerte er sich so eingehend um die Anstellung eines Buchhalters.
Aber die ruhige Miene verriet nichts Außergewöhnliches. Da dachte
Epstein, daß ihn: wohl eine weitere Blüte aus dem ohnehin dürftigen
Kranz seiner Machtbefugnisse gerissen werden sollte; unauffällig
aber trotzdem sehr fühlbar.
„Herr Stammers," sagte er, die gebeugte Gestalt unwillkürlich
reckend, „ich bitte an das übrige Personal zu denken."

Der Ches sah auf, überrascht ob des veränderten Tones; er war
mit seinen Gedanken fern gewesen.
„Wie meinen Sie das, Epstein?.. . Was ist mit dem übrigen
Personal?"
„Ich denke an die Autorität, die ich doch eigentlich haben soll,
die aber nicht befestigt wird, wenn in untergeordneten Fragen..."
„Aber ich bitte Sie, Epstein, es liegt mir doch völlig fern, Ihre
Stellung einzuengen!" Er sagte es fast herzlich. „Ich will die Sache
doch nicht allein machen! Seien Sie ohne Sorge: es wird nichts
geschehen, was Sie dem Personal gegenüber herabsetzen könnte;
weder jetzt noch in Zukunft. Genügt Ihnen das?"
„Vollkommen, Herr Stammers." Erleichtertes Aufatmen folgte
dieser Versicherung. „Ich werde so verfahren, wie Sie es ge-
wünscht haben, Herr Stammers." Er trat näher an den Schreib-
tisch heran: „Wenn ich offen sagen soll, Herr Stammers, so halte
ich den einen Bewerber, Tischer heißt er, glaube ich, für den ge-
eignetsten Mann, und deshalb. . ."
„Sie mögen recht haben, Epstein; trotzdem wollen wir nichts
übereilen; auch der Auswärtige soll kommen. Es liegt mir viel
daran, daß wir den Posten für die Dauer besetzt bekommen; Sie
wissen ja: gutes Personal, gute Arbeit." Damit beugte sich der
Fabrikant über seine Papiere und saß kurz darauf allein.
Es war wie gestern ein schöner Herbsttag; einer von denen, die
noch einmal die entschwundene Sommerherrlichkeit zusammen-
fassen. Der Mann am Schreibtisch dachte nicht an seine Pflichten,
die ihn sonst nicht zur Ruhe kommen ließen, bis er am späten
Nachmittag die Feder aus der Hand legte, er saß still da und blickte
träumend ins Freie. Weiche Düfte kamen wie gestern durchs
offene Fenster.
Stammers konnte sich nur mit Mühe von seinen Gedanken los-
reißen. Es beunruhigte ihn wie gestern, daß er sich in Träume-
reien verlor. Derartiges hatte er früher nicht gekannt. Er besann
sich mit aller Gewalt auf die Dinge, die ihm zunächst lagen.
Da war der Fall Schinkel. Schon gestern abend, auf seinem
einsamen Abendspaziergang, hatte er sich vorgenommen, den
Freund sobald wie möglich zur Rede zu stellen; jetzt überkam ihn
dies Verlangen von neuen:.
Er beauftragte Fräulein Streckert, ihn mit Gut Neuendamin,
dein Besitz Schinkels, telephonisch zu verbinden, erhielt aber zu
seiner Enttäuschung den Bescheid, daß Schinkel seit zwei Tagen
nicht mehr daheim gewesen sei; man vermute ihn im „Silbernen
Schwan".
„Soll ich dort anrufen, Herr Stammers?" unterbrach das junge
Mädchen das Nachdenken ihres Chefs.
„Im ,Silbernen Schwaift? Nein, danke, lassen Sie nur." Der
Fabrikant beugte sich über seine Arbeit; ein Zeichen, daß er allein
sein wollte.
Aber es ließ iHv: doch keine Ruhe. Während des Vortrages, den
ihm später der leitende Chemiker Doktor Prell hielt, und auch
als einer der drei Bewerber gekommen war und von Epstein in
das Privatkontor des Chefs geführt wurde, hörte Stammers nur
mit halbem Ohr hin. Gegen Mittag stand er auf und vertauschte
die bequeme Bürojacke mit den: Straßenjackett; er wollte Schinkel
aufsuchen.
Der „Silberne Schwan" lag am Markt und war das Absteige-
quartier der umwohnenden Gutsbesitzer. Er war nicht das feinste
Lokal am Ort, aber durch die Überlieferungen vor jedem Beiseite-
drängen geschützt. In den: alten Haus gab es nur ein Stockwerk,
aber die große Gaststube wog alle Mängel, die dieses altdeutsche
Gasthaus sonst aufweisen mochte, völlig auf.
Stammers fand sich hier jeden Donnerstag gegen Abend ein, um
ein Stündchen mit Bekannten zu verbringen. Dadurch behielt er
Fühlung mit der Zeit, soweit die Stadt und ihre Bedürfnisse in
Frage kamen. Dann saßen so gegen zwanzig Herren uv: den rie-
sigen ovalen Tisch in: Hintergründe des Zimmers und ergingen
sich in Betrachtungen, Mutmaßungen und Anregungen, und auch
die Kritischen fehlten nicht, trotzdem der Oberbürgermeister und
einige Magistratsmitglieder mit an: Tische saßen und alles ein-
steckten: Lob und Tadel. Diese Donnerstagabendstunden waren
Stammers eine Quelle der Erfrischung geworden; er vergaß dann
 
Annotationen