Heft 6 Das Buch für Alle 11
Altgermanische Trauung / Nach einem Gemälde von Ferdinand Lecke.
Einst war der Gernrane der Herr in seinem Hause, völliger Herr über die Gattin und über das Gesinde, über die er frei gebieten konnte. Die Macht, die er einst besaß,
war eine doppelte: die durch den Kauf der Frau erworbene und die moralisch selbstverständliche, die ihm als Haupt der Sippe zukam. Wenn nämlich der Freie sich die
Gattin holte so geschah dieser Akt als einfacher Kauf, indem der Brautwerber den geforderten Kaufpreis erlegte, womit die Frau in den Besitz des Mannes überging. Doch
war wie unser Bild zeigt, die Vermählung mit einer feierlichen und weihevollen Symbolik umkleidet, und der Trauring war schon zu jener Zeit germanische Srtte.
Tannennadeln auf dem Boden niederfallen und starrte blöd durch
7. Lücke im Unterholz auf das Bild vor ihm: feiernde, fröhliche
Mi--- Menschen, Menschen, die nichts wußten von der Scham und Ver-
'' ' zweiflung, die in ihm wühlten, die nie die Qual erfahren hatten,
ihre Nächsten verachten zu müssen, — ehrbare Bürger, von denen
^7' ein Abgrund ihn trennte.
Fritz Melber mit den Seinen saß an einem Tische. Rose bestand
E''.darauf, an Feiertagen unter Menschen geführt zu werden, und
. > M . Annie brachte ihre freien Sonntagnachmittage immer bei dem
Vater zu. Sie war in unbestimmter Sorge um ihn. Zu Rose hatte
'',"'^-7. sie kein Herz fassen können, als sie noch Magd im Melberschen
Hause war, sie konnte es noch weniger, seit sie als Hausfrau selbst-
' ' herrlich dort regierte. Es dünkte sie, daß seine zweite Frau ihren
Vater nicht so liebe wie ihre Mutter einst, und wie sein gütiges,
- ' . kindlich argloses Wesen es verdiente. Und sie fürchtete, daß das
Glück und Vertrauen, in denen er sich wiegte, eines Tages zer-
stieben müßten wie Seifenblasen. Darum schloß sie sich noch
- -'7''"-^. inniger an ihn. Es würde doch gut sein, wenn er in der Stunde
. c - seiner Verlassenheit wenigstens sein Kind an seiner Seite wußte.
Dk" Vielleicht war diese Stunde nah. Annie gefielen die Blicke nicht,
- mit denen Rose den Wachtmeister Ritter ansah, der plötzlich fast
täglich im Hause ihrer Eltern vorsprach. Auch heut saß er neben
',^,.^'.7 Rose und unterhielt sich lebhaft mit ihr, während Melber, der
- -5 ein Mensch von wenig Worten war, stumm in den blauen Himmel
hinaufstarrte. Eifrig plauderte Annie auf ihn ein und erzählte ihm
von ihren kleinen Erlebnissen im Titzlaffschen Hause.
Melber seufzte. „Alles ganz gut und schön, Anniechen. Ich
wollte aber doch, du wärest bei mir im Hause geblieben."
„Aber, Väterchen, ich komme doch zu dir, sooft ich nur kann.
Und weißt du, ein stolzes Gefühl war's doch, als die Frau Präsi-
dentin mir am Ersten meinen Lohn auf den Tisch zählte, das erste
Geld, das ich mir selbst verdient hab'! — Hätt' ich's nicht, hätt'
ich auch nicht die Überraschung für dich anfertigen können, über
die ich mich so sehr gefreut hab'. Von dem ersten Geld, das mir
gehört, mußtest du ein Andenken haben. Da! Schau!"
Aus ihrem Handtäschchen zog sie eine kleine Stickerei, eine
Zigarrentasche, prall gefüllt mit guten Zigarren, und reichte sie
Melber. Der betrachtete sie gerührt.
„Freut's dich, Vater? — Ich bin ja so froh, wenn ich dir ein
bißchen Freude machen kann. Ich hab' dich so lieb. Und nicht
wahr, du hast mich auch noch lieb? Du vergißt mich nicht ganz?"
Jetzt klang Roses Helle Stimme in die leise Zwiesprach der
beiden.
„Ich hab' Durst. Bitte, Annie, hol' mir Wasser aus der Wirt-
schaftsküche."
Annie war gehorsam aufgestanden. Gehorsam wanderte sie in
die Küche der Wirtschaft und ließ sich ein Seidel mit Wasser
füllen. (Fortsetzung folgt)