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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 61.1929

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Heft 24
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https://doi.org/10.11588/diglit.52835#0624
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14 Das Bnch
Und eines Nachmittags rief uns alle „Mutting Mine" ins Gärtnerhaus,
so sauber gehalten trotz des alten Hausrats. „Mit Vater geht's zu Ende",
hatte der Arzt gesagt, der, zehnmal von ihm hinausgeworsen, zehnmal
wieder nach dem Alten sah.
Meine Mutter brachte ihm die schönste Rose aus dem Garten und legte
sie in seine welke knochige Hand: da schoß eine Blutwelle wie einst in das
blasse Greisenantlitz. „Möt die Schöne Elo-i-re von Dijon sterben, weil
,oll Ribbekker- stirbt? Nee, nee, gnä' Fru, dat 's nich recht, so 'n armes
Ding!" Dann winkte er die Herrin ganz nahe heran, aber nicht seine Fa-
milie, nicht Hab' und Haus legte er ihrer Pflegsamkeit als Vermächtnis
auf — ein paar beschriebene Blätter zog er unter dem Kopfkissen vor:
Düngerezepte, Vorschriften für die Mischung von Kuhmist, Pferde- und
anderm Dung und ihre Dosierung und Anwendung, namentlich für die
Bäume und Spaliere, die die deutschen Kalvillen trugen, auf deren Zucht
er besonders stolz war.
„Und nu kann ja der Herr Hofgärtner hier regieren, mich holt der Herr-
gott in seinen Garten", brummte er lächelnd in sich hinein. Dann wandte
er den Kopf der Abendsonne zu und legte sich zum ewigen Schlafe zurecht.
Noch einmal schlug er die Augen auf, durch'das laute Jammern und

für l l e Heft 24
Schluchzen seiner alten Lebensgefährtin vom „andern Ufer" zurückgerufen.
Er hob sich zu ihr hin und tastete nach ihrer Hand. „Na, flenn nich so, min
,Olsche°, ick hol dir bald nach, warst immer 'ne gute Deern."
Dann streckte er sich, der Hund winselte leise, kroch heran und verendete
zu den Füßen seines sterbenden Herrn. „Mutting Mine" aber sank in die
Knie, warf sich über den Toten, schlang die dürren Arme noch einmal
um ihn, und es brach aus ihr heraus in allem Schmerze fast wie ein Jubel:
„Er hat mir ,min Olsche' nennt — Jott, Jott, nu is allens jut, ,min
Olsche' hat er mir nennt."
Wir stifteten ihr ein anständiges Trauerkleid mit einem langen Witwen-
schleier, für den sie unter Tränen lächelnd besonders innig dankte: „Dat
's nun min Brautschleier, gnäd'ge Fru." Für alle im Hause wie im
Dorfe war sie fortan „Witwe" Ribbekker, und darauf hielt sie.
„Oll Ribbekker" aber hat sie noch immer nicht nachgeholt — vielleicht
„von wegen die Freiheit". Vielleicht hat er auch im Paradiesgarten zu-
viel zu schaffen und muß auch da den Kamps aufnehmen gegen „neu-
mod'schen Dünger". Hoffen wir indessen, daß die Kühe der Milchstraße
ihre Schuldigkeit tun und Evas Apfelbaum unter seiner Pflege schönste
deutsche Kalvillen trägt.

Das alte Auektbaus von Sing-Bing
Von Dr. Lrwin Ltranik

ines der berühmtesten — freilich im negativen Sinne berühmtesten —
Gebäude der Vereinigten Staaten von Nordamerika wird in kurzer
Zeit abgetragen und durch einen Neubau ersetzt werden: es ist dies das
beinahe hundert Jahre bestehende Hauptgebäude des bekanntesten Zucht-
hauses der Welt, von Sing-Sing. Unendliche Tragödien haben sich hier
bereits abgespielt, viel Leid und wenig Freude haben in diesem Hause
gewohnt.
45 Kilometer von Neuyork entfernt, reizvoll am Ufer des Hudson ge-
legen, präsentiert sich die Sommerfrische Ossining in der malerischen Lieb-
lichkeit einer amerikanischen Kleinstadt, die noch ländlichen Einschlag auf-
weist und vom modernen Fabriksleben nicht durchpulst wird. Nach Ossining
fährt der Neuyorker auf Wochenende oder für längere Zeit zur Erholung,
dort fühlt er sich wohl, denn er braucht weder die Annehmlichkeiten der
Weltstadt zu vermissen noch auf irgend etwas zu verzichten, was ihm
zur Entspannung seiner Nerven nötig ist. Zu all den Villen und kleinen
Holzbauwerken mit den friedlichen, sorglos dreinblickenden Einwohnern
stand bisher nur ein Gebäude in scharfem Gegensatz, das Haus Hunter-
street 345, eben das Gebäude von Sing-Sing, von dem man sich erzählt,
daß früher, als dieser Komplex noch kein eigenes Elektrizitätswerk besaß,
in den Zimmern von Ossining die Lichter verlöschten, wenn „drüben" der
elektrische Stuhl in Wirksamkeit trat.
Aber man darf nicht glauben, ganz Sing-Sing sei immer unter dem
Zeichen jenes schrecklichen Todes gestanden. Im Gegenteil: wenn man
diesen Riesenkomplex mit seinem alten Gefangenenhaus, den Wiesen,
Gartenanlagen und Arbeitsälen betrat, dachte man eher, in eine land-
wirtschaftliche Kolonie geraten zu sein. Ein Zuchthaus? Der Himmel auf
Erden ließe sich nicht besser einrichten — schien es, wenigstens von außen.
Seit dem Jahre 1914, wo für alle Sträflinge ein überaus humanes
„Lebensgesetz" erlassen wurde, verließen diese an Werktagen schon am
frühen Morgen ihre Zellen. Wo man hinkam, bewegte sich alles frei und
unbehindert. Breite Sonne drang durch große Fenster in alle Säle und
Gänge. War es kühl, sorgten elektrische Heizkörper neuester Konstruktion
für angenehme Temperatur. In den in den letzten Jahren geschaffenen
Zubauten befanden sich nicht nur die Büros der Beamtenschaft, sondern
auch ein Lesezimmer, ein Spielzimmer, Werkstätten aller Branchen, ja
sogar ein Theater. Was der Gefangene einstmals in der Außenwelt war,
durfte und sollte er auch hier sein: Schneider, Schuster, Tischler, Wäscher,
Gärtner, Köche lebten in ihrem Metier. Drei Dollar pro Tag betrug die
Pauschalentlohnung für Dienstleistung gleichgültig welcher Art. Im Gegen-
satz zu der europäischen Gepflogenheit, erst nach Verbüßung der Strafe
dem nun aus dem Gefangenenhause wieder ins Leben Hinaustretenden
das während seiner Haft verdiente Geld auszuhändigen, durften hier die
Gefangenen über ihr Geld frei verfügen. Auch die Methode, sie in Un-
kenntnis aller Vorgänge der Tagesgeschichte zu lassen, hatte man hier
schon längst aufgegeben. Ein Zeitungstand, bot stets die neuesten Blätter
und Magazine feil, das Radio verkündete durch seinen Lautsprecher die
jüngste politische Konstellation und die Ergebnisse aller internationalen
Sportwettspiele. Dazwischen gab es Konzerte, Jazz und ernste Musik.
Auf diese Weise suchte die Anstaltsleitung zu verhindern, daß die hier

kasernierten Leute von ihrem früheren Niveau noch herabsanken, ja, es
gelang ihr bisweilen, dieses bei einzelnen Sträflingen sogar noch zu heben,
denn man hielt hier auch eine eigene Schule, in der höher gebildete Ge-
fangene minder gebildete unterrichteten. Außerdem wollte man dadurch,
daß man den Aufenthalt in Sing-Sing den Leuten erträglich gestaltete,
Ausbrechversuche und unnützes Blutvergießen verhindern. Denn die Wäch-
ter, die sich anscheinend ganz bescheiden im Hintergründe hielten, paßten
doch sehr scharf auf und hatten Befehl, sofort zu schießen, wenn es einem
Gefangenen einfiele, entfliehen zu wollen.
In einem andernTrakt wurde für Unterhaltung gesorgt. Einmal wöchent-
lich veranstaltete man einen Filmabend, bisweilen auch eine Varieto-
vorstellung. Theater spielte man nur selten, aber Ballettänze gingen mehr-
mals des Jahres in Szene. Und einmal im Fasching gab es den „großen
Ball der Gefangenen von Sing-Sing", der einen Höhepunkt der Saison
bildete und zu dem von weit und breit Gäste — allerdings nur als Zu-
schauer — herbeieilten. Ein Platz auf der Galerie kostete einen Dollar.
Beinahe immer war man ausverkauft.
Zwischendurch machte man auch Gottesdienst, denn der Amerikaner
bildet sich ein, fromm zu sein. Und konnte er nicht auf das Glaubens-
bekenntnis jedes einzelnen Rücksicht nehmen, so befahl er des Sonntags
einfach alle Gefangenen zu einem „überkonfessionellen" Gottesdienst und
befriedigte damit sein Gewissen.
Hatte einer der Sträflinge sein Tagewerk vollbracht, so durfte er sich,
gemäß den jüngst getroffenen Erleichterungsvorschriften, ein wenig auf
eigene Faust vergnügen, konnte musizieren, schreiben, lernen, Fußball
spielen — was er wollte. Bis zum Abendessen. Nach diesem freilich war
die Freiheit wieder für eine Nacht zu Ende. Dann mußten die Sträflinge
in ihre kleinen Zellen, eben in jenes Gebäude, das nun abgerissen wird.
Diese Zellen standen im scharfen Gegensatz zu den sonstigen Humanitären
Einrichtungen Sing-Sings. Sie waren bloß 2,5 Meter lang, 2 Meter hoch
und etwa 1,2 Meter breit. Keine Fenster führten nach außen, und das
einzige Licht, das sie hatten, fiel durch die schmalen Gitter in den stählernen
Türen. Die Gefangenen schliefen auf Pritschen, die an der Wand herunter-
geklappt wurden. Manchmal wurden zwei Gefangene in einer solchen Zelle
untergebracht. Bis 1914 mußten die Sträflinge beinahe den ganzen Tag in
diesen engen, dumpfigen Löchern verbringen und wurden nur einmal für
kurze Zeit herausgelassen. Am Sonntag gab es überhaupt keinen „Ausgang",
und fiel auf den Montag auch ein Feiertag, so mußten sie von Samstag
mittag bis Dienstag in den Zellen zubringen. 1914 wurde dann endlich
der Versuch einer neuen Belüftung durch geführt, und der letzte Gefängnis-
direktor befreite die Gefangenen aus der Qual dieser Behausungen dadurch
am radikalsten, daß er sie den ganzen Tag über in andern Räumen unter-
brachte und die Sträflinge nur noch des Nachts in ihre Zellen eingepfercht
wurden. Trotz all dieser Nachteile verrieten die einzelnen Zellen aber doch
die Wesensart ihrer Insassen: denn die Sträflinge schmückten die Wände
mit allerlei Bildern, und ganz im Anfänge, als das Zuchthaus gebaut
worden war, hatte sich ein Journalist, der einmal im Handgemenge einen
Mann getötet und hierher zu lebenslänglicher Gefängnishaft gekommen
war, von einem Freunde einen Vogel schenken lassen und das Bauer in
 
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