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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 62.1930

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Heft 5
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https://doi.org/10.11588/diglit.52836#0121
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8

Das Buch für Alle Heft Z

Porte wandte sich nun an Robin: „Es ist da ein Vetter von
Frau Van Renselaer," sagte er, „über den ich gern Näheres von
Ihnen gehört hätte, Herr Paul Hildreth."
„Paul? Ja, um's Himmels willen, das ist der einzige Ver-
wandte meiner Schwägerin, der muh sofort benachrichtigt wer-
den —"
„Ist es richtig, Herr Van Renselaer, daß der Herr infolge des
Todes Ihrer Schwägerin Erbe eines großen Vermögens wird?"
„Ja. Nach dem Testament seines Großvaters — aber, Herr
Porte," sagte er plötzlich, „Sie denten doch nicht — es ist ja
ausgeschlossen, daß er —"
„Bitte, Herr Van Renselaer, lassen Sie sich durch teine meiner
Fragen zu irgendwelchen Schlüssen verleiten. Ich bemühe mich
lediglich, alles Wissenswerte in Erfahrung zu bringen. Ich ver-
dächtige niemand auf die bloße Andeutung einer theoretischen
Möglichkeit hin. Bitte, sagen Sie mir nun die Einzelheiten jenes
Testaments."
„Der alte Cornelius Hildreth hatte zwei Söhne, Cornelius
junior und Schuyler. Der erstere hatte eine Tochter Mary; sie
heiratete Abbott Bigelow, den berühmten Kanzelredner, und
wurde Viktorias Mutter. Schuyler verheiratete sich mit dem er-
bittertsten Feind des alten Cornelius, was der Alte ihm nie
verziehen hat. Er zerschnitt das Tischtuch zwischen sich und ihm.
Die Folge war sein Testament, mit dem er alles seiner Enkelin
Mary Bigelow und deren Abkömmlingen vermachte. Sollte sie
jedoch keine Kinder haben, dann sollte das Vermögen übergehen
auf seinen Enkel Paul, Schuylers Sohn. Mary Bigelow war
zwölf Jahre verheiratet und hatte keine Kinder bekommen; es
schien daher gewiß, daß Paul Erbe würde. Damals war er fünf-
zehn Jahre alt. Als dann Viktoria geboren wurde, war dies für
Schuylers Frau ein harter Schlag, aber sie trug ihn mit An-
stand, und bis zu ihrem Tode war sie immer nett mit Viktoria.
Das Testament des alten Cornelius sah auch vor, daß, falls Marys
Kind oder Kinder ohne Nachkommen stürben, das Vermögen an
Paul oder seine Nachkommen fallen solle."
„Und wie stellte Paul Hildreth sich zu Viktoria Van Renselaer?"
„Er schien sie sehr gern zu haben, und sie ihn auch. Ich weiß,
daß sie es war, die meinen Bruder veranlaßte, ihm zwei- oder
dreimal aus der Geldklemme zu helfen. Ich kann mir nicht vor-
stellen, daß er eines Verbrechens fähig wäre; selbst nicht unter
den drückendsten Verhältnissen."
„Bei einem Verbrechen wie diesem," belehrte ihn der Detektiv,
„wo keine deutlich in einer bestimmten Richtung verlaufende
Spur sich uns darbietet, muß man bloßen Möglichkeiten mehr
Wahrscheinlichkeit zubilligen als in andern Fällen."
„Aber, Herr Porte, der Mord ist doch sicher die Tat eines Irr-
sinnigen! Wer sollte denn Viktoria, die immer nur Gutes tat —"
Seine Stimme erstickte vor innerer Erregung in ihm.
„Die Tatsache bleibt bestehen," sagte Porke kühl, „die Tat-
sache des Mordes bleibt bestehen, und folglich auch ein für diese
Mordtat hinreichendes Motiv, das wir finden müssen. Wo ist
Herr Hildreth gewöhnlich anzutreffen?"
„In Neuyork im Coronet-Club. Er spekuliert ein wenig an
der Börse; wenn er auswärts ist, wird die Firma Snaft, Hit-
chings L Co. seine Adresse wissen. Aber, Herr Porke, er ist ein
Mann von guter Erziehung, von edelm Wesen, und die Tat ist
doch so brutal, daß sie nur ein Unmensch begangen haben kann!"
„Das letztere zugegeben," erwiderte der Detektiv, „doch geht
die Erfahrung dahin, daß wenn ein Mann von aristokratischer
und feinrassiger Herkunft einmal sich zu einem Mord entschlossen
hat, er die Tat oftmals mit einer Unmenschlichkeit ausführt, als
sei er aus den tiefsten Schichten. Darf ich Sie bitten, Ihr Tele-
gramm an Herrn Hildreth jetzt telephonisch aufzugeben? Richten
Sie es, bitte, an seinen Klub und teilen Sie ihm nur mit, daß
Frau Van Renselaer plötzlich gestorben ist."
„Gut! Soll ich ihn herbitten?"
„Nein. Überlassen Sie das ganz ihm. Sein Verhalten wird
kennzeichnend sein. Da — Frau Ashley winkt; wir wollen hinein-

gehen. Bitte, alles, was ich mit Ihnen gesprochen, streng ver-
traulich zu behandeln.
Das Mittagessen, zu dem Frau Ashley sie hereingewinkt hatte,
verlief unerträglich einsilbig. Jeder aß mechanisch etwas, alle be-
eilten sich, dieses Beisammensein möglichst rasch zu beenden.
Nach Tisch zog der Detektiv Frau Goodall unauffällig in den
Erker. Da er ihre Nervosität und ihr Zittern wahrnahm, begann
er mit einem halb ermunternden, halb teilnehmenden Lächeln.
„Sie können mir gewiß verraten, woher Frau Van Renselaer
ihr Dienstpersonal bekommt?"
Lucille atmete auf.
„Von Frau Kolmer in der Sechsten Avenue."
„Wissen Sie, ob das Zimmermädchen, das heute früh davon-
ging, auch von Frau Kolmer geschickt war?"
„Ja. Delia, das frühere Zimmermädchen, mußte plötzlich nach
Hause, und ich war zufällig dabei, wie Frau Van Renselaer an
Frau Kolmer telegraphierte."
„Ist Ihnen etwas an ihr aufgefallen?"
„Ja — sie war beinahe eine Schönheit."
„Machte sie den Eindruck eines gutgezogenenZimmermädchens?"
„Vollkommen in allem! Flink und geräuschlos — soweit ich
sie beobachtet habe in der kurzen Zeit."
„Sie würden sie wiedererkennen, wenn Sie ihr begegneten?"
„Ja, denn sie hat ein Gesicht, das man nicht leicht vergißt."
„Seit wann kennen Sie Frau Van Renselaer?"
„Seit sie zum erstenmal nach Neuyork kam, zu ihrer Groß-
tante, Frau Schuyler Hildreth. Wir waren viel zusammen und
immer so lustig — bis sie sich verheiratete."
„Und dann?"
„Dann bekam sie auf einmal Pflichten. Sie wurde ernst, nahm
teil an ihres Mannes Studien und ging eine Zeitlang ganz auf
in diesen. Bis vor kurzem!"
„Verlor sie ihr Interesse?" Der Detektiv faßte sie scharf ins
Auge.
„Nein, aber sie widersetzte sich ihres Mannes Forschungen; sie
fühlte sich geradezu abgestoßen von ihnen. Eine Zeitlang glaubte
ich, es sei Eifersucht auf Dysarts Steckenpferd. Im letzten Winter
stürzte sie sich plötzlich in einen Strudel von Vergnügungen,
machte aber auf mich einen gedrückten Eindruck. Am Ende der
Saison war sie nervös, abgespannt, kurz, sie war gänzlich ver-
ändert gegen früher. Hier hat sie sich nicht erholt, sie machte
auf mich sogar den Eindruck, als fühle sie sich noch viel unwohler,
und wenn sie manchmal lustig war, erschrak ich über das Er-
zwungene dieser Heiterkeit."
„Haben Sie darüber mit Frau Van Renselaer gesprochen?"
Die Frage klang trocken, scharf und bestimmt, wie bei einem
Zeugenverhör. Lucille sah verwirrt zu Boden.
„Ich? Mit ihr selbst?" stammelte sie. „Nein, ich habe nicht mit
ihr davon gesprochen."
„Bei Ihrer Freundschaft mit Frau Van Renselaer ist das son-
derbar. Wäre es nicht das natürliche gewesen, sie einmal nach
dem Grund ihres veränderten Wesens zu fragen?"
„Nein, das wäre es nicht", sagte Lucille ablehnend. Denn sie
war entschlossen, dem Detektiv nichts von dem gestrigen Gespräch
oder von dem Scheck zu sagen. Sie fürchtete, das könne auf ihre
tote Freundin einen Schatten werfen, und glaubte zu wissen,
daß Viktorias Geldsorgen mit dem Mord in keinerlei Zusammen-
hang ständen. Porke aber war überzeugt, daß Lucille ihm einen
Vorfall verschweige, der mit Frau Van Renselaers verändertem
Gemütszustand zusammenhing. Er begnügte sich vorläufig damit.
Unvermittelt fragte er dann: „Sie kennen doch Herrn Paul
Hildreth?"
Lucille war überrascht, daß der Detektiv sich mit ihrer letzten
Antwort zufriedengab. Erleichterten Herzens ging sie daher auf
das ungefährliche neue Thema ein.
Ja, sie kannte ihn, und ihr Mann kannte ihn auch. Ein ent-
zückender Mensch. Jedermann hatte ihn gern. Schade, daß er
immer kein Geld hatte.
 
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