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Blum, Gerd
Hans von Marées: autobiographische Malerei zwischen Mythos und Moderne — München, Berlin, 2005

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https://doi.org/10.11588/diglit.14541#0285

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VII. Marees im kulturgeschichtlichen Kontext

VII. 1. Gründerzeitliche Stereotype in antikischer Einkleidung
Der Historismus des 19. Jahrhunderts hat Kunstwerke erstmals systematisch als
zeitbedingte Hervorbringungen unterschiedlicher Epochen erforscht. Hans von
Marees hat solchen geschichtlichen Relativismus ausdrücklich abgelehnt. Gerade
weil er fest davon überzeugt war, in Werk und Lebenshaltung zeitlos und ur-
sprünglich zu sein, reproduzierte er in seinen Bildern und Briefen jedoch verbrei-
tete Klischees seiner Zeit.1 2
Worin liegt die kulturhistorische Bedeutung der Bilder von Marees? Indem sie
lebens- und kulturgeschichtliche Vorgaben verarbeiten, ist — so ein verbreiteter
Topos — in ihnen Geschichte abgelagert. Indem sie jedoch ihre geschichtlichen Mo-
tive in »autonomer« bildlicher Gestaltung fortschreiben, scheinen sie — so ein weite-
res kunstwissenschaftliches Stereotyp — Historie ästhetisch zu »überwinden«.
Kulturhistorische Archivalien tragen dazu bei, die Bilder von Marees zu er-
schließen — welche Aufschlüsse geben seine Bilderfindungen ihrerseits über den
kulturgeschichtlichen Kontext? Was können seine Gemälde und Zeichnungen über
jene Spanne der mentalen (Vor-)Geschichte des deutschen Kaiserreiches zwischen
Vormärz und Wilhelminismus aussagen, in der er lebte? Was vermitteln sie über
die »Gründerzeit«, das die einschlägigen kulturhistorischen Quellen nicht überlie-
fern? Wie werden die Werke von Marees einem geistes- und kulturgeschichtlichen,
einem ikonologischen Blick zugänglich, der - wie kürzlich von Gottfried Boehm
und Horst Bredekamp gefordert- — die spezifische Logik von Bildern ernst nimmt?
Seine Werke haben motivisch mit der »alltäglichen Wirklichkeit der anlaufen-
den Industrialisierung nicht das Geringste zu tun«3 4. Auch gehörte er nicht zu jenen
Künstlern des neuen Staates, »die ihren Ehrgeiz daransetzte[n], den gesellschaft-
lichen Institutionen des Kaiserreiches durch repräsentative künstlerische Werke
zu zusätzlichem Ansehen zu verhelfen«*. Dennoch sind seine Gemälde und Zeich-
nungen in doppelter Hinsicht historisch bedeutsam: Als Abbilder gründerzeitlicher
Mentalitäten und als Vor- und Leitbilder, die das kulturelle Bewusstsein deutscher
Eliten seit etwa 1900 mit prägten. Sie sind in ihren Tiefenstrukturen dichte Zeug-
nisse basaler Mentalitätsmuster des frühen Kaiserreiches, deren Ambivalenzen in
der offiziösen Kunst der Zeit unter Stiefelglanz und Uniformgepränge zumeist ver-
borgen blieben. Und sie haben als Entwürfe und Festschreibungen »ursprüng-
1 Zum ähnlich paradoxen Verhältnis von »zeitlosem« Anspruch und nur allzu zeitgebundenen Kli-
schees im Werk Nietzsches und Wagners: Schmidt 1985, S. 145 und 148. Wie in Marees’ Bildern
zeitgenössische Stereotype konterkariert werden, soll im Folgenden ebenfalls aufgezeigt werden.
2 Vgl. Enwezor 2001, S. 6f. (Vorwort von G. Boehm und H. Bredekamp).
3 Mommsen 2002, S. 247.
4 Ebd., S. 248.

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