fehlte die Breite des eigenen Wesens, die sich von Rubens hätte verwandt an-
gesprochen fühlen können. Der Klassizismus hat auf dem Wege über diese Mo-
ralisierung des Kunsturteils sein schärfstes Urteil über Rubens geprägt.10
Auch J.D.Fiorillo erschienen Rubens’ Darstellungen der letzten Dinge „immer
als eine große Schlachtbank“.11 Wie Winckelmann bewundert er aber an ihm die
große Stärke im dichterischen Teil der Kunst, in Allegorie, Mythologie und
Ikonologie, ohne für seine anderen Eigentümlichkeiten das gleiche Verständnis
aufzubringen. Obwohl sein Fleisch voll Leben sei, zieht er seine bekleideten
Figuren vor, denn die nackten seien wegen der „verderbten Umrisse“, des „Miß-
brauchs“, den er mit konvexen Linien trieb, „äußerst unangenehm.“ Seine
Zeichnung sei „nicht mit den Grazien vermählt“, denn wie auf die Wahrheit,
so habe er auch auf die Antike zu wenig Rücksicht genommen. „Sei es nun wahr
oder nicht, daß er über die Nachahmung der Antiken geschrieben habe, er führte
wenigstens in der Wirklichkeit die Grundsätze nicht aus“. Auch in seiner Farbe
findet Fiorillo mehr zu tadeln als zu loben. „Glanz, Lebhaftigkeit und Farben-
pracht verführte Franzosen, Spanier und Niederländer, ihn als Muster an-
zusehen, und bewog so viele Schriftsteller, ihn für den ersten Koloristen zu
nehmen“; der begabte Kenner aber werde sich nicht täuschen lassen, wenn
manche Bilder „beim ersten Anblick ganz wie aus farbigem Kristall zu bestehen
scheinen“.12 Wenigstens in den Reflexen („Widerscheine, durch brillante Farben
bewirkt“) zeige sich manchmal Natur; aber Rubens gab sie zu viel und zu stark
und störte damit die Ruhe der Bilder. Auch die Architektur auf seinen Gemälden
erinnere „nur zu sehr an den verdorbenen Geschmack seines Jahrhunderts“.
Dagegen erkennt Fiorillo Rubens’ Kraft in der Komposition und seinen Ideen-
reichtum an, und er bemerkt sehr gut, besonders groß sei er da, wo „Körper
10 Vincent van Gogh hat sich einmal über die Unangemessenheit eines sittlich-seelischen
Maßstabes für die Gestalten des Rubens ausgesprochen. In einem Brief an den Bruder Theo
heißt es: „Ich muß Dir sagen, daß mich die Kreuzabnahme begeistert. Nicht durch die Tiefe
des Gefühls — wie ich sie bei Rembrandt, oder einem Bilde von Delacroix, oder in einer
Zeichnung von Millet finden würde. Nichts erschüttert mich weniger als Rubens, was den Aus-
druck menschlichen Schmerzes betrifft. ... Vergleiche ihn zum Beispiel mit dem Kopf von
Rembrandt in der Sammlung Lacase, mit der Männerfigur in der Judenbraut — Du wirst
verstehen, was ich meine, daß mir zum Beispiel seine etwa acht aufgequollenen Kerle, die, in
der Kreuzigung, einen tour de force mit einem schweren Holzkreuz leisten, absurd vorkommen,
sobald idi mich auf den Standpunkt moderner Analyse menschlicher Leidenschaften und Ge-
fühle stelle, daß Rubens im Ausdrude, besonders von Männern (abgesehen von seinen eigent-
lichen Porträts), oberflächlich, hohl, verquollen ist, ja sogar konventionell, und zwar wie
Giulio Romano und noch schlimmere Leute der Decadence. Aber dennoch schwärme ich für
ihn, weil gerade er, Rubens, es ist, der — wenn seine Figuren auch manchmal hohl sind —
Stimmungen von Fröhlichkeit und Freude, ebenso des Schmerzes auszudrücken sucht und auch
wirklich ausdrückt durch die Kombination der Farben. ... Delacroix hat dann aufs neue ver-
sucht, die Leute an die Symphonie der Farben glauben zu machen. Man möchte sagen ver-
gebens ..." Künstlerbriefe über Kunst, herausgeg. v. H. Uhde-Bernays, Dresden 1926, S. 919 f.
11 Über Rubens im 3. Bd. seiner „Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und
den vereinigten Niederlanden“, Hannover 1818, S. 1—23.
12 Vgl. wörtlich bei Winckelmann, S. Werke, a. a. O. I, S. 269.
73
gesprochen fühlen können. Der Klassizismus hat auf dem Wege über diese Mo-
ralisierung des Kunsturteils sein schärfstes Urteil über Rubens geprägt.10
Auch J.D.Fiorillo erschienen Rubens’ Darstellungen der letzten Dinge „immer
als eine große Schlachtbank“.11 Wie Winckelmann bewundert er aber an ihm die
große Stärke im dichterischen Teil der Kunst, in Allegorie, Mythologie und
Ikonologie, ohne für seine anderen Eigentümlichkeiten das gleiche Verständnis
aufzubringen. Obwohl sein Fleisch voll Leben sei, zieht er seine bekleideten
Figuren vor, denn die nackten seien wegen der „verderbten Umrisse“, des „Miß-
brauchs“, den er mit konvexen Linien trieb, „äußerst unangenehm.“ Seine
Zeichnung sei „nicht mit den Grazien vermählt“, denn wie auf die Wahrheit,
so habe er auch auf die Antike zu wenig Rücksicht genommen. „Sei es nun wahr
oder nicht, daß er über die Nachahmung der Antiken geschrieben habe, er führte
wenigstens in der Wirklichkeit die Grundsätze nicht aus“. Auch in seiner Farbe
findet Fiorillo mehr zu tadeln als zu loben. „Glanz, Lebhaftigkeit und Farben-
pracht verführte Franzosen, Spanier und Niederländer, ihn als Muster an-
zusehen, und bewog so viele Schriftsteller, ihn für den ersten Koloristen zu
nehmen“; der begabte Kenner aber werde sich nicht täuschen lassen, wenn
manche Bilder „beim ersten Anblick ganz wie aus farbigem Kristall zu bestehen
scheinen“.12 Wenigstens in den Reflexen („Widerscheine, durch brillante Farben
bewirkt“) zeige sich manchmal Natur; aber Rubens gab sie zu viel und zu stark
und störte damit die Ruhe der Bilder. Auch die Architektur auf seinen Gemälden
erinnere „nur zu sehr an den verdorbenen Geschmack seines Jahrhunderts“.
Dagegen erkennt Fiorillo Rubens’ Kraft in der Komposition und seinen Ideen-
reichtum an, und er bemerkt sehr gut, besonders groß sei er da, wo „Körper
10 Vincent van Gogh hat sich einmal über die Unangemessenheit eines sittlich-seelischen
Maßstabes für die Gestalten des Rubens ausgesprochen. In einem Brief an den Bruder Theo
heißt es: „Ich muß Dir sagen, daß mich die Kreuzabnahme begeistert. Nicht durch die Tiefe
des Gefühls — wie ich sie bei Rembrandt, oder einem Bilde von Delacroix, oder in einer
Zeichnung von Millet finden würde. Nichts erschüttert mich weniger als Rubens, was den Aus-
druck menschlichen Schmerzes betrifft. ... Vergleiche ihn zum Beispiel mit dem Kopf von
Rembrandt in der Sammlung Lacase, mit der Männerfigur in der Judenbraut — Du wirst
verstehen, was ich meine, daß mir zum Beispiel seine etwa acht aufgequollenen Kerle, die, in
der Kreuzigung, einen tour de force mit einem schweren Holzkreuz leisten, absurd vorkommen,
sobald idi mich auf den Standpunkt moderner Analyse menschlicher Leidenschaften und Ge-
fühle stelle, daß Rubens im Ausdrude, besonders von Männern (abgesehen von seinen eigent-
lichen Porträts), oberflächlich, hohl, verquollen ist, ja sogar konventionell, und zwar wie
Giulio Romano und noch schlimmere Leute der Decadence. Aber dennoch schwärme ich für
ihn, weil gerade er, Rubens, es ist, der — wenn seine Figuren auch manchmal hohl sind —
Stimmungen von Fröhlichkeit und Freude, ebenso des Schmerzes auszudrücken sucht und auch
wirklich ausdrückt durch die Kombination der Farben. ... Delacroix hat dann aufs neue ver-
sucht, die Leute an die Symphonie der Farben glauben zu machen. Man möchte sagen ver-
gebens ..." Künstlerbriefe über Kunst, herausgeg. v. H. Uhde-Bernays, Dresden 1926, S. 919 f.
11 Über Rubens im 3. Bd. seiner „Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und
den vereinigten Niederlanden“, Hannover 1818, S. 1—23.
12 Vgl. wörtlich bei Winckelmann, S. Werke, a. a. O. I, S. 269.
73